Grundfarbe Schwarz

Carola Lepping – „Bela reist am Abend ab“

von Frank Becker

Grundfarbe Schwarz
 
„Bela reist am Abend ab“
Ein großer kleiner Roman
 
Vor 60 Jahren ist er zum ersten und einzigen Mal im S. Fischer Verlag erschienen. Er hat nur 149 Seiten, und doch ist dieser Roman ein ungemein wuchtiges Buch. Der Erstling der 1921 in Elberfeld (heute Wuppertal) geborenen Schriftstellerin Carola Lepping, wurde beim ersten Versuch 1953 von der Jury des Charle-Veillon-Preises, wenn auch wohlwollend, abgelehnt und gewann beim zweiten Anlauf 1955 mit überwältigendem Zuspruch von u.a. Albrecht Goes, Karl Heinrich Waggerl, Wilhelm Hausenstein, Werner Bergengruen und Carl J. Burckhardt den begehrten Literaturpreis, den nach ihr auch Johannes Bobrowski, Alfred Andersch, Heinrich Böll und Max Frisch bekamen. Auch Thomas Mann setzte sich dafür ein, Carola Lepping den Preis zuzusprechen. Der S. Fischer Verlag, der 1950 umstrukturiert worden war, sich auf die modernen Klassiker verlegte und um neue Talente bemüht war, entdeckte wie das Preiskomitee das enorme Potential, das in „Bela reist am Abend ab“ und seiner Autorin steckte und veranstaltete eine wirklich schöne Ganzleinen-Ausgabe mit einem Schutzumschlag von Martin Kausche.
 
Das gesamte Buch beschreibt einen einzigen Tag, die Gänge, Gedanken, Ängste, Hoffnungen und Gespräche einer jungen Frau. Es ist ein Tag des Abschieds, denn Bela, 29 Jahre alt, wird am Abend dieses Tages mit dem Zug abreisen, ihre kleinbürgerliche Welt, die Heimatstadt, die Wohnung und das an der schmutzigen, stinkenden Wupper gelegene Kurzwarengeschäft der Mutter verlassen. „Bela reist am Abend ab“ ist ein „Ulysses“ im Kleinen, begleitet der Leser die Protagonistin doch vom morgendlichen Alb vor dem frühen Aufstehen im bedrängenden finsteren Zimmer nahezu Schritt für Schritt durch diesen letzten Tag vor der Flucht aus der Enge, die sie ins Leben werfen wird. Der Zukunft gehört dabei nahezu kein Gedanke – Rückblicke auf das eigene Leben, auch im Dritten Reich und Reflexionen über alles, was heute geschieht, bestimmen den fesselnd dichten Text, der starke autobiographische Züge trägt und der vor der Grundfarbe Schwarz voller Todessymbolik ist. Ja auch dem Tod begegnet Bela an diesem letzten Tag in der Stadt, die nach den fürchterlichen Zerstörungen des Krieges langsam wieder aufgebaut wird.
Schwarz sind die Vögel, die in Belas Traum einfallen, schwarz der Himmel, der sich über der düsteren Fabrikstadt wölbt, schwarz fließt der Fluß, in dem nirgends Schilf wächst, den die kleinen Wasserhühner verlassen haben, dem man seine Ufer nahm, auf dem kein Schiff fährt, auf dem nicht einmal ein kleines Boot treiben kann: „Das ist ein Fluß! Ach, das ist ein Fluß. Das ist gar kein richtiger Fluß.“ (…) „Seine Mühsal. Seinen Schmutz. Seine leidvolle Verfärbung. Und diesen schwarzen, riechenden, mitleidsoden Betrug, den man an ihm verübt. Immer schon verübt hat, seit er Fluß ist. Diesen Mißbrauch, diesen gehäuften, sehr alten Mißbrauch.“
Carola Lepping beschreibt ihn als einen Styx, der keinen Himmel hat, überspannt von einer Bahn: „Nur dieses Eisengerüst über sich. Und daran die Bahn, diese zähe, lästige laute Bahn. Und keine Wolken. Andere Flüsse haben Wolken über sich. Er hat nur die Bahn, und durch die Lücken der Eisensparren schimmert zuweilen das dichte, unnachgiebige, gütige Grau des Himmels seiner Stadt. (…) Und sie sieht ihn an, und es geht ihr auf, daß er immer neben ihr war, und daß sie ihn nie, keinen Augenblick ihres langen, langen Lebens geliebt hat. Und sie hat so vieles geliebt, das es nicht wert war, geliebt zu werden. Aber den Fluß hier, den hat sie nie geliebt.“
 
Bela wird ihre sterbende alte Gefährtin Läuer an diesem letzten Tag im Krankenzimmer in den schrecklichen Tod begleiten: „Es ist so entsetzlich – es ist so entsetzlich – es ist so entsetzlich…“ (…) Und einmal berühren Läuers Hände im Herumwerfen Belas Hand: „Laß“, schreit Bela, „nein!“ Und ihr Herz poltert von neuem die lange Treppe der Angst herunter. Und schlägt auf jeder Stufe hart und laut auf. Noch eine Stufe, noch eine…“
Betäubt von Abschied, Tod und diffusen Ängsten wird Bela in verlorenem Gottglauben für quälend endlose Momente auf einer Eisenbahnbrücke vor einer Verzweiflungstat stehen: „Oh, und warum nicht? Auch dies: Regen, überall Regen – ja und Eisen – nasses Eisen – und Ruß und Qualm der Lokomotiven. (…) Er läßt uns alle fallen. Er schickt die schwarze Sonne, daß sie uns dörrt und läßt uns alle von der Erde fallen… Sieh nicht hoch! Ach sei klug, halte dich fest! Dieses Geländer ist sicher. Die Menschen haben es gebaut. Oh, sie sind gut!“
 
Bela wird Mendorps Werben in den Wind schlagen, den Wunsch der Mutter, sie möge bleiben – und, ja, die eigene Furcht vor der Reise ins Ungewisse. Bela wird abreisen. „Und der Zug fährt jetzt ganz schnell. Und der schwarze, gewaltige, starke neue Lärm reißt Bela fort. Und sieh, Bela, nun ist nichts mehr, nichts, das dich festhält und weint und sich sorgt, nichts mehr. Nichts. Freiheit – endlich – die schwarze, schöne grausame Wüste der Freiheit. (…) Draußen ist die schwarze, vorbeisausende Fläche des Nichts. Auch keine Mauer. Auch kein Licht. Auch keine Brücke. Nicht einmal ein Baum. Nur die schwarze, vorbeisausende Weite des Nichts.“
 
„Bela reist am Abend ab“ weist schon damals auf Carola Leppings Opus magnum ihren Roman „Cor“ hin. Es ist durch die dichten regionalen Bezüge im Text ein Wuppertal-Roman, einer der besten, die je geschrieben wurden – doch ist jede Position austauschbar, und er könnte überall spielen, so gültig sind Leppings präzise Personen-, Charakter-, Seelen-, Situationsbilder. Es ist eines der besten Bücher, die ich je lesen durfte, weshalb es wie „Cor“ natürlich unser Prädikat, den Musenkuß bekommt. Heute wäre Carola Lepping (1921-2009) 95 Jahre alt geworden.
 
Carola Lepping – „Bela reist am Abend ab“
© 1956 E. Fischer Verlag, 149 Seiten, Ganzleinen mit Schutzumschlag
Das Buch ist gelegentlich noch antiquarisch zu bekommen. Sichern Sie sich ein Exemplar!
 
Mehr über Carola Lepping:  hier → in den Musenblättern