Das Paradox der Heimat (1)

von Andreas Steffens
Redaktionelle Vorbemerkung:
 
Wer das Programmheft der diesjährigen Wuppertaler Literatur-Biennale, deren Motto „Utopie Heimat“ ist und die morgen beginnt, aufmerksam durchblättert, mag sich wundern, daß ein renommierter Wuppertaler Schriftsteller und Philosoph darin fehlt: Andreas Steffens. Offenbar befanden es die Organisatoren nicht für angebracht, diesen Autor von Rang zu einem Beitrag einzuladen. Für uns besonders auffällig und völlig unverständlich, zumal Andreas Steffens gerade zum Thema ‚Heimat‘ bereits einiges Bemerkenswertes veröffentlicht hat.
So enthält seine große Studie ‚Ontoanthropologie‘, 2011 im NordPark-Verlag erschienen, ein ausführliches Kapitel über „Das Versprechen der Heimat“ (S. 153-167). Eine Serie von Aphorismen über den Begriff ‚Heimat‘ ist seit Jahren Bestandteil einer Dauerinstallation in einem der schönsten deutschen Heimatmuseen, dem Wolfgang-Bonhage-Museum in Korbach.
2008 hielt Andreas Steffens dort einen bemerkenswerten Vortrag über ‚Das Paradox der Heimat‘. Wir finden, daß dieser Text auch ein denkbar passender Eröffnungsvortrag für die diesjährige Wuppertaler Biennale gewesen wäre. Die Chance haben die Organisatoren bedauerlicherweise vertan. Wir veröffentlichen ihn deshalb heute und morgen hier, leicht gekürzt.
 
 
Andreas Steffens
 
Fremdsein und Selbstwerden
Das Paradox der Heimat
 
Wer wüßte nicht, oder hätte keine Vorstellung davon, was ‚Heimat’ ist?

Dr. Andreas Steffens - Foto © Frank Becker
Genau darin aber liegt die erstaunlich große Schwierigkeit ihres Verständnisses, dessen wir so sicher zu sein glauben: jeder hat sein eigenes.
Damit ist vorgezeichnet, womit eine Bestimmung von Heimat es zu tun bekommt: sie ist etwas, das zu jedermanns Existenz gehört. Anders gesagt: sie ist nichts, was einen nichts anginge, gleichgültig, ob einer sich darum kümmert, oder nicht. Heimat ist etwas Unvermeidliches.
Als Begriff ist Heimat wenig zu fassen. Begriffe werden durch Verneinung gebildet. Etwas kann dann als bestimmt gelten, wenn nicht mehr unklar ist, was es nicht ist. Definitionen sind immer negativ.
Nach dieser Bedingung steht es um die Definierbarkeit von ‚Heimat’ nicht gut. Denn was immer sie ist, ein wesentliches Merkmal von Heimat ist Zustimmung; auf jeden Fall ist sie das Gegenteil von Abwesenheit, sie ist Anwesenheit; Anwesenheit in ihrer intensivsten Weise; sie ist geradezu der Inbegriff dessen, was sich von allem am schwierigsten distanzieren läßt. Denn als Anwesenheit bestimmt Heimat die Ursituation jedes neuen Lebens: die Situation, in die es hineingeboren wird. Heimat ist zuerst und vor allem sonst das, was dort schon da ist, wo unsere Existenz begonnen hat. Weil jeder sie damit in sich trägt, und sie mit sich nimmt, wohin immer er geht, ist Heimat fast nicht loszuwerden, und beinahe unverlierbar.
So hat jeder eine Heimat von Geburt; aber niemand besitzt sie durch Geburt.
Hier geboren sein hieß nicht, man war hier geborgen, lautet eine Zeile in Durs Grünbeins Gedicht auf seine Dresdener Kindheit, >Russischer Sektor< (Grünbein, Strophen, 10): Am Polarkreis, wer lebt da gern? Tschuktschen, Ewenken?
 
Staub oder Dunst oder Ruß – das Gemüt, früh bedrückt
Von der Landschaft in Bleisatz, dem Graudruck ringsum,
Federt spät erst wie Tundra, gefrorener Boden, zurück,
Bis als letzter der Zeugen das Gedächtnis verstummt.
 
Damit der Ort der Geburt Ort der Heimat auch sein kann, muß eine doppelte Verneinung sich erfüllen: Heimat kann nur ein Ort sein, an dem man nicht nicht an seinem Ort ist. Das aber kann überall sein, sogar dort, wo man zur Welt kam.
Die poetische Genauigkeit, mit der der Lyriker auf den Ort seiner Herkunft, ihn am inneren Seelenort von Heimatlichkeit messend, zurückschaut, gibt das Moment zu erkennen, das die Heimat mit der Utopie verbindet, sich desto mehr zu verflüchtigen, je konkreter sie bestimmt sein will. Es ist nicht jene Klarheit der Dinge, die sie zur Vertrautheit befähigt, worin Heimatlichkeit liegt; sie entsteht vielmehr in einem ebenso starken, wie kaum benennbaren Daseinsgefühl: sie geht hervor aus dem Empfinden eines Einverständnisses mit sich selbst und der Welt, als Kennzeichen des Ortes, an dem man lebt. Wo dieses Empfinden sich einstellt, ist Heimat gegenwärtig, wo auch immer es sein mag.
Am stärksten gründet das erste Daseinsgefühl der Einverständigkeit in dem System vitaler Sicherheiten, das Heimat bildet. Denn sie bietet jedem Individuum, was es braucht, um als Gattungswesen existieren zu können. Heimat ist Sicherheit, schrieb Jean Améry 1966 in seiner grundlegenden Studie >Wieviel Heimat braucht der Mensch?< (Améry, 82 f.). In der Heimat beherrschen wir souverän die Dialektik von Kennen-Erkennen, von Trauen-Vertrauen: Da wir sie kennen, erkennen wir sie und getrauen uns zu sprechen und zu handeln, weil wir in unsere Kenntnis-Erkenntnis begründetes Vertrauen haben dürfen.

Wer seine Lebensführung ihrem Gefüge der Traditionen und Bräuche anvertraut, wird zum Bestandteil einer elementaren Struktur der Lebensermöglichung. Insofern bildet Heimat mit ihrem kollektiven Gedächtnis, das als unbewusst nutzbarer Speicher der elementaren Fertigkeiten des Überlebens fungiert, das Grundgerüst der Kultur.
Diese Gewährleistung aber hat ihren Preis. In ihren Genuß kommt nur, wer sich dem obersten Gebot unterwirft, aus dem alle Regeln heimatlicher Lebensform sich ableiten: Sei wie alle ! Vor allem aber: Bleib dort, woher du stammst.
Dahinter steht das bis heute vorherrschend gebliebene mitteleuropäisch-kleinbürgerliche Modell der Lebens- als Familiengeschichte. Nach ihm ist in strengster Genealogie Heimat dort, wo man geboren wurde und seine Kindheit verbrachte; dort, wo die Vorfahren begraben sind, und die Nachkommen einen begraben werden; dort, wo man in die Kette der Fortzeugungen unmittelbar eingereiht ist.
Gegen den Anspruch auf ein unverwechselbar eigenes Dasein ist das kollektive Lebensgefühl der Heimat jedoch tief misstrauisch, und jene Lust nach der Fremde, von der Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen schwärmen ließ (Novalis, Ofterdingen, 18), ist ihr vollkommen fremd. Untrüglicher Instinkt sagt ihr: Wer nicht sein will, wie alle, gefährdet durch Vernachlässigung des Gemeinsamen die Grundlagen eines Lebens durch Gemeinschaft. Daraus bezieht die Lebensform der Heimat ihren Standardlebenslauf möglichst identischer Wiederholung. Ihr Urgebot lautet: sei noch einmal, was deine Vorfahren waren.
Wer dagegen Neigung zum Individualismus zeigt, und es darauf anlegt, der Besondere auch zu werden, der er nach Begabung und Neigung sein kann, hat sich beinahe schon als untauglich zu heimatlicher Gemeinschaft erwiesen. Er wird sich eines Tages entscheiden müssen: für die Sicherheit stiftende Regel der Wiederholung eines Lebens, das sich in ihm fortsetzen soll, oder die von Unsicherheit begleitete Regel des Neubeginnens eines freien Selbstseins. Die Entscheidung fällt auf der Trennlinie zwischen Heimat und Welt.
Insofern bezeichnet das Problem der Heimat die Rückseite des Problems der modernen Gesellschaft, die eine Gemeinschaft aus Individuen sein soll. Wenn Gesellschaft die Gemeinschaft von Einzelnen ist, in der alle sich von allen unterscheiden, muß sie den Rückhalt dessen einbüßen, was für alle gilt, weil sie Angehörige einer Gemeinschaft sind.
Gerade, wer für sich selbst und sein eigenes Leben den Anspruch eines ausgeprägten Eigenseins erhebt, sollte nicht verkennen, daß der Widerstand, dem er sich damit aussetzt, nichts anderes ist als die andere Seite der Gewährleistung, überhaupt sein zu können.
Deshalb ist es von zwingender Folgerichtigkeit, daß die Romantik, die das Individuum entdeckt, gleichzeitig die Heimat entdeckt. In der Wanderschaft denkt sie beide zusammen. Mit ihrem Bild beginnt einer der ersten Künstler-Romane unserer Literatur, Ludwig Tiecks >Franz Sternbalds Wanderungen< (1798).

Es gibt keinen Ort der Welt - sofern er bewohnt, oder von Menschen bewohnbar ist - , der nicht für irgendjemanden Heimat sein kann. Umgekehrt: Heimat ist zwar überall möglich, aber nicht überall wirklich: wirklich ist Heimat immer an einem Ort, der für denjenigen, für den er Heimat ausmacht, dieser eine, bestimmte Ort ist, der sich vor allen anderen Orten der Welt gerade durch diese Besonderheit auszeichnet, Heimat zu sein: kein beliebiger Ort, sondern der Ort für dieses Dasein.
Deshalb wird die stärkste Erfahrung von Heimat in ihrem Verlust gemacht. Für sie gilt nicht weniger, sondern am eindrücklichsten, was für alle Werte, Bedeutungen und Besitzungen gilt, daß erst ihre Entbehrung mit ihnen genau bekannt macht. Solange man sie hat, kennt man sie nicht; hat man sie nicht mehr, lernt man sie kennen, und oft auch erst schätzen. Denn alles, worüber sich uneingeschränkt und mühelos verfügen läßt, unterliegt einer fatalen unwillkürlichen Tendenz, gering geachtet zu werden.
‚Heimat’ ist also ein Unbestimmtes, solange sie besessen wird, ausgezeichnet durch eine eigentümliche Abwesenheit, deren Hervortreten in tatsächlicher Abwesenheit sie erst in ihrem Wesen erfahrbar macht. So beginnt das bedeutendste Werk deutscher Heimatliteratur, Theodor Fontanes >Wanderungen durch die Mark Brandenburg<, deren erster Band 1862 zuerst erschien, mit dem Satz: „Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen“.
Ihre Kenntnis eröffnet sich erst fern der Heimat. Nur dort, wo wir nicht zu Hause sind, nur, wenn wir nicht dort sind, woher wir kommen, erleben wir, was dieses abwesende ‚Dort’, woher wir an einen fremden Ort gerieten, für uns bedeutet. Was das ‚Hier’ der Heimat ausmacht, geht erst im ‚Dort’ der Fremde auf: als Erinnerung an das, was in der Selbstverständlichkeit seiner Gegenwart unbemerkt bleiben muß.
 
Wir würden uns freuen, wenn Sie morgen an dieser Stelle den zweiten Teil des Vortrags lesen.