Carl Loewe

und die Legenden-Komposition des 19. Jahrhunderts (2)

von Konrad Beikircher

Carl Loewe (1796-1869)
Carl Loewe
und die Legenden-Komposition
des 19. Jahrhunderts
 
Wenden wir uns heute dem schottischen Nebel zu und den haarfein gesponnenen nordischen Legenden: Die schottischen Bilder op. 112 von Loewe, das sind: Die Jungfrau am See, Der Wanderer auf Bothwell Castle und Der Schottenclan.
 
Man hat – so italienbegeistert war die Zeit damals – Schottland die Toskana des Nordens genannt, was höchstens in Bezug auf die einander bekämpfenden Clans stimmt (und das waren nicht nur die McDonalds gegen die Burger Kings!, wenn man an die Türme von San Gimignano denkt, die ja ein beredtes Zeugnis abgeben von der kämpferischen Frührenaissance in der Toskana). Auf die Landschaft bezogen stimmt es sicher nicht. Das war aber der Kundschaft, Verzeihung: dem Publikum im 19. Jahrhundert egal. Es ging ja nicht um Schottland oder Italien, es ging um die Sehnsucht nach Schottland, um die Sehnsucht nach Italien. Das war das Entscheidende: und ob das nun die wundervolle schottische Symphonie von Felix Mendelssohn war oder die schaurigen Balladen aus der Feder unseres Carl Loewe, ob das die Italienische Symphonie, abermals von Mendelssohn, war oder die Pilgersehnsüchte des Tasten-Phantasten Franz Liszt, Hauptsache war, daß man die Sehnsucht nur so recht spüren sollte, daß es einem das Herz zusammenzieht, wenn man im Schatten der Regenwolken sagen wir mal: in Schwelm sitzt und Ibach-Klaviere testet.
 
Da, wo Deutschland, das es ja in der Zeit noch gar nicht gab, weh getan hat, da war die Sehnsucht am größten und weil damals Deutschland überall weh getan hat, war auch überall ein Publikum für diese großen Träume vom schottisch-gruseligen Nebel oder von der melancholisch–heiteren serenità der Toskana. Wie viele Komponisten seiner Zeit hat auch Carl Loewe diesen Phantasien Rechnung getragen und sie meisterhaft umgesetzt: sowohl die italienischen wie auch insbesondere die schottischen. Dieses Herumschweifen der Phantasie als Reise-Ersatz für all diejenigen, die sich eine solche Reise nicht erlauben konnten, die aber andererseits genügend Musikalität besaßen, um mit geschossenen Augen der Musik nach Italien oder Schottland folgen zu können, hat auch in der Landschafts- und Genre-Malerei des 19. Jahrhunderts ihr Pendant, vom grandiosen Tischbein, der nicht nur Goethe mit Schlapphut auf italienischer Ottomane gemalt hat bis zu Paul Cezanne (keiner hat wie er die Sehnsucht der Pariser nach der verlorenen französischen Unschuld gemalt – und sie in der Provence wieder gefunden, wunderbar!).
 
Die Sehnsucht nach dem mediterranen Raum und als erste Folge davon die Entstehung der Rheinromantik hat übrigens hier vor unseren Augen ihren Anfang genommen: am Rhein, den Lord Byron auf der Suche nach der Antike neu entdeckt hat und mit ihm zuerst die Engländer und dann die ganze Welt. Das hat alles in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts stattgefunden und in der Zeit Carl Loewes einen ersten Höhepunkt erlebt: die Sehnsucht nach dem romantischen Rhein, nach dem hellen Italien, nach dem nebelhaften Schottland, kurz: nach dem ganz großen Anderen. Daneben aber hat Carl Loewe auch richtig seriös, wollen wir mal sagen, komponiert, wie es sich für einen Komponisten seiner Zeit gehört hat. Und er hat dies mit großer Kunst und Bravour getan, wie z.B. sein wunderschönes Grand Duo op. 12 für Oboe und Klavier!
 
Der Mailänder Carlo Yvon (1798-1854) war ein Hauptexponent italienischer Oboenkunst und darüber hinaus ein typischer Vertreter der romantischen Virtuosenzeit: Als perfekter Meister seines Instruments genoß er das Privileg, seinen Beruf nicht mehr in der Enge eines Hofstaates, sondern als 1. Oboist eines „bürgerlichen“ Orchesters - desjenigen der Mailänder Scala - ausüben zu können. Er war ein derart bekannter Solist in seiner Zeit, daß er bei vielen Uraufführungen, die an der Scala stattfanden, oft namentlich erwähnt wird, z.B. bei einer ganzen Reihe von Meyerbeer–Aufführungen. Ebenso charakteristisch für seine Zeit ist freilich, daß Yvon als „Maestro“ am Konservatorium von Mailand wirkte: Die Romantik war eine Epoche der zunehmenden Verbürgerlichung des Musiklebens. Dazu gehörte, daß die musikalische Ausbildung immer mehr allgemein gültige Standards aufwies, die durch den Unterricht an den Konservatorien gesetzt wurden. Das war der Boden für das Aufblühen der E-Musik als Allgemeingut in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, wovon wir ja bis heute profitieren. Insofern hat auch Carlo Yvon - selbst einst Schüler des Conservatorio - für viele italienische Oboisten maßstabsetzend gewirkt.
Im Rahmen seiner Lehrtätigkeit schrieb Yvon einige pädagogisch orientierte Werke, z.B. sechs Studien für Oboe mit Klavierbegleitung sowie Oboenduette. Jenseits aller „Didaktik“ bringt ja auch seine Sonate viele klangliche Vorzüge des Englischhorns zur Geltung. Die Musik geht überdies - um ein berühmtes Mozart-Wort zu zitieren – „angenehm in die Ohren“, wobei eine gewisse salonhafte Glätte gern in Kauf genommen wird.
 
Zurück zu Carl Loewe. Er war zwar auf einigen Konzertreisen, darunter auch in Frankreich, aber in Italien war er nie. Er hatte zwar einen Freund namens Triest, aber der hat mit der Stadt nur den Namen gemein. Die Bezüge, die Carl Loewe zu Italien hat, waren also die genannten ideellen, sehnsüchtigen, nicht tatsächliche. Und dieser Bogen spannt sich immer noch. Fast noch so wie zu Loewes Zeiten, von:
 
Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunklen Laub die Gold-Orangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
Kennst du es wohl? Dahin! Dahin
Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn.

Bis zum wundervollen:
 
Und vom Himmel die bleiche Sichel des Mondes blinkt,
Ziehn die Fischer mit ihren Booten aufs Meer hinaus,
Und sie legen in weitem Bogen die Netze aus.
Nur die Sterne sie zeigen ihnen am Firmament
Ihrem Weg mit den Bildern, die jeder Fischer kennt.
Und von Boot zu Boot das alte Lied erklingt,
Hör von fern wie es singt:
Bella, bella, bella Marie,
Bleib mir treu, ich komm zurück morgen Früh,
Bella, bella, bella Marie,
Vergiß mich nie.
 
Dieses Lied wurde übrigens 1943 von Gerhard Winkler komponiert (Text: Ralph Maria Siegel) und aufgenommen, gleich aber wieder verboten, weil die Amis 1943 Capri zurückeroberten und die deutsche Wehrmacht natürlich ausgerechnet diese Sehnsucht nach Capri nicht auch noch schüren wollte. In den 1950ern wurde es der große Hit von Rudi Schuricke. Heute kommen zwar zur Italiensehnsucht das Essen und der Wein dazu, dafür aber mäßigte Berlusconi (erinnern Sie sich an den „Cavaliere“?) unsere Sehnsüchte doch drastisch. Sei’s drum: ich beneide das 19. Jahrhundert um diese wundervollen Gefühle, ungetrübt von aller Realität, die es den Menschen schenkte.
 
In diesem Sinne
Ihr
Konrad Beikircher
 
 Redaktion: Frank Becker