Carl Loewe

und die Legenden-Komposition des 19. Jahrhunderts (1)

von Konrad Beikircher

Carl Loewe (1796-1869)
Carl Loewe
und die Legenden-Komposition
des 19. Jahrhunderts
 
Legenden waren im 19. Jahrhundert eines der Themengebiete für Komponisten, übrigens zugleich eines der am wenigsten erforschten. Die Musik in Geschichte und Gegenwart kennt das Stichwort überhaupt nicht und der große New Grove sagt in einem Satz, daß man Legenden die Kompositionen des 19. Jahrhunderts nennt, die sich mit Legendenstoffen befassen oder eine Legende illustrieren. No, da sind wir ja ein ganzes Stück weiter, oder?! Sie sehen, wir bewegen uns im Neuland, wir wissen also nicht genau, warum das 19. Jahrhundert (und fast ausschließlich es, wenn wir mal von Olivier Messiaen und seinem Franziskus von Assisi absehen) sich so der Legende als Stofflieferant ergeben hat. Das geht von Max von Schillings, dem Dürener Meister des Melodramas (eine Gattung, die uns heute eher komisch als seriös vorkommt) über „Das Glöckchen des Eremiten“ von Aimée Maillart zu den großartigen Legenden aus der Hand von Franz Liszt, den geigerischen Höhenflügen von Heinrich Wilhelm Ernst in der „Letzten Rose“, der war ja so was wie der Reinhold Messner des Griffbretts, unglaublich was er der linken Hand des Geigers abverlangt und zu Tschaikowski.
 
Und mittendrin unser Carl Loewe, natürlich. Mindestens siebzehn Legenden hat er uns hinterlassen – und schöne obendrein. Warum nur dieses Thema? Legenden? Ich denke es hat mit der Romantik zu tun und der Entdeckung der Vergangenheit: der Gedanke, daß wir Europäer gemeinsame Wurzeln haben, die über das nationale Gedächtnis hinausgehen, zeigt sich noch ganz zaghaft aber doch präsent, daß z.B. schottische Legenden und Mythen nicht irgendwo da oben im fernen Thule spielen sondern mit uns zu tun haben, daß sie uns bewegen weil sie zu unseren Wurzeln gehören, war ein ganz neues Gefühl. Es wurde zwar vom sich aufbäumenden Nationalismus in den beiden Weltkriegen zunächst verdrängt, kam aber dann mit Macht in unser Bewußtsein zurück und gehört heute zu den Selbstverständlichkeiten, die wir leben. Die Legendenkompositionen des 19. Jahrhunderts waren zwar nicht der Anfang dieses Gedankens, aber auch in ihnen kam er zum Ausdruck (ansonsten natürlich in der Literatur, im Tourismus, der jetzt anfing, eine große Bewegung zu werden), gepaart mit der Neigung, das alles in etwas verquaste Nebelfelder in der Vergangenheit zu rücken, dahin, wo es schön ist aber doch nicht in jedem Detail überprüft werden muß und wo es deshalb nicht mit der Realität ins Gedränge kommt (daß z.B. Italien nicht an allen Ecken Toskana ist und Schottland auch schon mal keinen Nebel hat). Wagner – das wage ich zu behaupten – wäre ohne diese Neigung seiner Zeit zu Legenden vielleicht nicht ganz so schnell zu seinen Themen vorgestoßen, damit meine ich: die Legenden haben zusammen mit dem neuen Geschichtsbewußtsein den Boden bereitet. Hat das neue Bewußtsein für die Geschichte nun einen sehr rationalen Charakter, so behielten sich die Legenden genau dieses Diffuse, Nebelhafte, Entrückte vor, das Mystische. Und wenn es sich mit religiösen Gefühlen mischte waren wir vollends in dem Raum, in dem nur noch das Gefühl zählt und in dem die Logik, das Rationale nicht mehr existiert. Und genau das liebten die Menschen im 19. Jahrhundert. Wie ja wir Menschen überhaupt das Unerklärliche lieben, immer wieder sind wir bereit, uns ihm hinzugeben, uns von ihm verführen zu lassen, ich sage nur: Uri Geller (das sage ich jetzt nur, um zu verhindern, daß einer denkt, wir wären heute ja sooo aufgeklärt, daß wir derlei „Zeug“ nicht mehr brauchten).
 
Die Legende des Heiligen Hauses von Loreto ist ein typisches Beispiel dafür. Sie existiert übrigens heute noch (im Zuge des neuen katholischen Spiritualismus existiert sie beinahe mehr denn je) und ist der Grund dafür, daß die Kirche in Loreto bei Ancona der zweithäufigst bepilgerte Wallfahrtsort nach dem Vatikan ist. Im Moment ist diese Position allerdings durch San Giovanni Rotondo bedroht, wo Padre Pio zur Verehrung einlädt.
Die Legende der casa sacra di Loreto, die im 14. Jahrhundert entstanden ist, besagt folgendes: als 1291 das Heilige Land, also Palästina, mehr und mehr muslimisch wurde, verschwand in der Nacht vom 9. auf den 10. Mai, das war übrigens die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag!, das Geburtshaus der Muttergottes aus Nazareth. Es wurde von Engeln nach Trsat in Dalmatien geflogen, um es aus muslimischer Hand zu befreien. Das seltsame Haus mit nur drei Wänden und ohne Fundamente sei sofort aufgefallen, auch weil es direkt mit Wundern aufwartete: z.B. genas der chronisch kranke Pfarrer noch in derselben Nacht (also quasi in der Nacht der Landung) von seinen Leiden. Der Bischof schickte daraufhin eine Gesandtschaft nach Nazareth die feststellte, daß das Haus nicht mehr dort steht. Sie nahmen die Maße ab und hielten die Übereinstimmung für ein Echtheitszertifikat.
 
Am 10. Dezember 1294, das war ein Freitag, flog das Haus erneut los – Hirten erzählten, sie hätten das Haus fliegen sehen – und zwar über die Adria nach Recanati in einen Lorbeerhain, blieb aber nicht lange da. Zwei Brüder, denen der Lorbeerhain gehörte, stritten sich um die Pilger-Einnahmen, daraufhin wurde das Haus am 7. September 1295 – da habe ich jetzt nicht mehr nach dem Wochentag geschaut, na gut: Mittwoch - noch mal ausgeflogen, diesmal nach Loreto, dahin, wo es bis heute steht. Soweit die Legende. Forschungen haben ergeben, daß der Mörtel und die Steine des Häuschens in Italien nirgends vorkommen, in Nazareth aber überall zu finden sind. Und: die Engel, das war wohl die Familie Angelo, genauer die von Nicefo Angelo. Er war Kreuzfahrer und soll seiner Tochter Ithamar zu ihrer Hochzeit mit Philipp von Taranto, dem Sohn Karls II. von Anjou, einen Haufen „heiliger Steine aus Nazareth“ mitgegeben haben. Bezeichnenderweise heißt es in der Überlieferung zunächst, das Haus sei auf dem Wasser transportiert worden, was der Wahrheit wohl näher kommt als der Flug mit den Engeln. Engel hat man damals übrigens die Kreuzfahrer genannt, so entstand dann wohl auch die Geschichte mit den Engeln.
 
Dann hat man eine Kirche um das Häuschen mit den drei Wänden herum gebaut (die vierte Wand hat das Haus deshalb nicht, weil es ursprünglich an den Felsen gebaut war, also in Nazareth) und viel Prunk drumrum entwickelt. Der Bockhaus von 1835 bemerkt dazu: „Unter anderen Seltenheiten zeigt man in diesem Haus das Fenster, durch welches der Engel Gabriel zu Maria hereintrat, als er ihr die Geburt des Heilandes verkündigte. Merkwürdiger ist das Bild Rafaels, die heil. Jungfrau darstellend, die einen Schleier über das Jesuskind legt.“ Soweit der Brockhaus – Sie sehen: eine wundervolle Legende, deren Charme auch unser Carl Loewe erlag!
 
Wenn Sie Lust haben, ein bißchen mehr über die Legendenkompositionen des 19. Jahrhunderts zu erfahren, besuchen Sie mich doch hier an dieser Stelle am nächsten Dienstag – ich würde mich freuen.
 
In diesem Sinne
Ihr
Konrad Beikircher
 
Redaktion: Frank Becker