Material Girl

„Das kunstseidene Mädchen“ mit Anna Lisa Grebe in Neuss

von Frank Becker

Anna Lisa Grebe - Foto © Frank Orbons
Material Girl
 
„Das kunstseidene Mädchen“
Nach dem Roman von Irmgard Keun
Bühnenfassung von Gottfried Greiffenhagen

Premiere am 15.04.2016
Rheinisches Landestheater Neuss, Studio
 

Regie: Sebastian Zarzutzki - Bühne: Sarah Durry - Kostüme: Alide Büld - Dramaturgie: Alexandra Engelmann
Besetzung: Anna Lisa Grebe (Doris)
 
Eine kleine Sehnsucht…
 
Seit vor 85 Jahren Irmgard Keuns Tagebuch-Roman über die zwar kaum begabte, aber lebensfrohe und –hungrige Schauspiel-Elevin Doris entstand und erschien, haben die Zeitläufe die deutsche Metropole Berlin, die darin eine wesentliche Rolle einnimmt, mehrfach einschneidend verändert, die Stadt verwüstet, geteilt und wieder aufgebaut. Der Charakter von Spree-Athen und seiner Boheme aber, den Irmgard Keuns Roman ebenso atmet wie die zur selben Zeit entstandenen Romane „Herz über Bord und „Zum Theater“ von Lili Grün, ist erhalten geblieben. Wie Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre ist Berlin auch heute wieder eine „Boom-Town“, in der man den Puls der Zeit fühlen kann. Dorthin will Doris, und sie will ganz nach oben, wo alles glänzt und einzig Geld und Luxus zählen.
 
Material Girl
 
Wir schreiben das Jahr 1931. Die 18-jährige Sekretärin Doris, das aus der Provinz-Kleinstadt in die Weltstadt Berlin katapultierte naiv-raffinierte „kunstseidene Mädchen“, im Gepäck ein unrechtmäßig erworbener Feh, will auf jeden Fall „ein Glanz“ werden. Schauspielerin glaubt sie zu sein, seit sie als Statistin einen Satz bekam. Ihr Talent, das sich vor allem in ihrer hübschen Larve zeigt, setzt sie ein, um auf dem schimmernden Parkett der Metropole um jeden Preis „anzukommen“ – und wird doch nur ein Spielzeug der Männer, mit denen sie sich auf Affären einläßt, ob als mondäne Geliebte eines verheirateten fetten Bankrotteurs oder als ins Bürgerliche zurückkehrendes Substitut für eine weggelaufene Ehefrau.
Irmgard Keuns kleiner Roman gehört zu den beliebtesten und entsprechend häufig interpretierten Vorsprech-Monologen für Schauspielerinnen, existiert in etlichen Bühnenfassungen und ist in nahezu unzählbaren Versionen im Internet zu finden. Und doch gelingt es Talenten wie jetzt Anna Lisa Grebe in Neuss auch immer wieder neuen Zugang zu diesem berührenden Stoff zu finden. Grebe gibt der jungen Frau mit dem Mut eines Parzival im kleinen Herzen, die sich so bedenkenlos prostituiert, kraft- und ernergievoll Gestalt. Auf dem Catwalk ihrer Illusionen spielt sie die von Träumen erfüllte und immer wieder an den Realitäten scheiternde Doris mitreißend emotional, mal kokett, mal furchtsam und mal beinahe glücklich. Von starker Symbolkraft sind die schillernden Seifenblasen, die um sie herum scheinbar Fröhlichkeit verbreiten, aber eine nach der anderen geräuschlos zerplatzen. Doris bleibt allein und vor allem seelisch ausgebeutet – und gibt doch nicht auf... Anna Lisa Grebe vermittelt die Inhaltsleere dieses jungen Lebens, dieses schmerzliche Elend des nie Ankommens intensiv, nicht zuletzt dadurch, daß sie Augenkontakt mit dem Publikum hält - Augen denen man sich nicht entziehen kann.
 
Headbangen überflüssig
 
Manchmal bricht durch allzu langes Dehnen eines Moments, mit dem Sebastian Zarzutzki Spannung erzeugen wollte, ebendiese ab. Und: zwar zeigt die rotblonde Schönheit beim Headbangen endlich ihre ganze wundervolle Lockenpracht – aber auch ohne diesen Ausbruch hätte sie die erstrebte Wirkung erzielt. Hier wäre in der Aufführung (75 Minuten, keine Pause) gelegentlich ein etwas strafferer Strang angezeigt, denn wie so oft ist mitunter weniger mehr. Ansonsten aber ist „Das kunstseidene Mädchen“ in der Neusser Interpretation von Anna Lisa Grebe unbedingt sehenswert.
Durch Song-Einlagen („Eine kleine Sehnsucht“, „Material Girl“) zeigt Anna Lisa Grebe ganz nebenbei mit guter Jazz- und Pop-Stimme auch beachtliche sangliche Qualitäten – und vor Freude über den Erfolg kann sie wie keine zweite strahlen. Das macht sie noch sympathischer. Für den jubelnden Applaus dankte sie mit einer Zugabe von Madonnas „Material Girl“.


Anna Lisa Grebe - Foto © Frank Orbons

Weitere Informationen: www.rlt-neuss.de