Der Mann mit den großen Ohren

Hans Dietrich Genscher †

von Joachim Klinger

© Joachim Klinger
Der Mann mit den großen Ohren
 
Hans Dietrich Genscher †
 
Karikaturisten suchen bei Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens immer nach besonderen Merkmalen, die ihren Charakter verdeutlichen und gleichzeitig ihr Erscheinungsbild vereinfachen. Ihr Ziel: Erleichterung der Identifikation und „Verulkung”. Die Leute sollen möglichst sofort sagen: „Das ist doch …”, und sie sollen lächeln. Zum Beispiel: der hat wirklich eine spitze Nase oder einen Haifisch-Mund.
 
Als Hans-Dietrich Genscher in das Licht der Öffentlichkeit rückte, fanden die Karikaturisten rasch heraus: dieses Schwergewicht hat große, abstehende Ohren, und voilà die Erkennungsmerkmale waren gefunden und die Attribute der Lächerlichkeit. Natürlich kamen die kleinen listigen Augen in dem flächigen Gesicht mit der zunehmenden Stirnglatze hinzu, aber „Markenzeichen” blieben die großen Ohren.
Man weiß, daß Genscher Humor hatte und sich über Karikaturen amüsierte. Ebenso war ihm bewußt, daß mit einer Veröffentlichung der Karikatur in Zeitungen eine breit angelegte Publizität verbunden ist. So überraschte es nicht, daß Genscher einmal im Jahr das Auswärtige Amt für eine große Karikaturen-Ausstellung öffnete. Ob der Sohn des bekannten Karikaturisten Karl Arnold (1883-1953), der im Ministerium als Abteilungsleiter tätig war, dafür den Boden bereitet hatte, weiß ich nicht. Ohne die Entscheidung des Ministers wäre aus diesem Unternehmen jedenfalls nichts geworden.
Hans-Dietrich Genscher war ein Mensch, der die Geselligkeit liebt und über einen großen Vorrat an witzigen Geschichten verfügte. Mit dem Schauspieler und Kabarettisten Didi Hallervorden war er befreundet und hielt zu dessen 80. Geburtstag eine launige Ansprache. Seine Kontaktfreude hat ihm gewiß bei politischen Verhandlungen geholfen.
 
Mit Künstlern war er gern zusammen. Das habe ich selbst einmal beobachten können.
Im Rahmen des sogen. KSZE-Prozesses, der 1973 in Helsinki eingeleitet worden war, sollte 1985 in Budapest ein internationales Kulturforum stattfinden. Daß die Kultur in Zeiten des „Kalten Krieges” als Türöffner benutzt werden soll, ist keine schlechte Idee.
Ich war als Ländervertreter in die Vorbereitung einbezogen worden (Kulturhoheit der Länder!) und reiste 1984 zusammen mit zwei Berufsdiplomaten für einige Tage nach Ungarn. Man sagte mir dabei, man wolle die Delegation für 1985 klein halten: zwei Diplomaten, zwei Ländervertreter. Ich unterdrückte meine Zweifel.
Kurz darauf erhielt ich in Düsseldorf eine Einladung aus Bonn. Auf der Tagesordnung stand das KSZE-Kulturforum, ein Mittagessen mit Minister Genscher war vorgesehen. Von wegen kleine Delegation! Es wurde deutlich, daß der Minister eine große wollte – nach der Zahl der Mitglieder und ihrer Qualifikation! Für den Bereich der Literatur waren z.B. Günter Grass und Ulla Hahn vorgesehen. Auf der Liste der Delegierten standen u.a. der Publizist Schwab-Felisch, der Bildhauer Hajek, der Maler und Museumsleiter Grochowiak und der Schriftsteller Erwin Wickert, der Botschafter gewesen war.
Man erkannte rasch, daß einige Mitglieder auch wegen ihrer Beziehungen zu Ostblockstaaten ausgesucht worden waren. Außerdem erwies sich diplomatisches Geschick bei der Auswahl, die das Verbot der politisch-diplomatischen Vorrangstellung zu beachten hatte. Wickert z.B. wurde ausschließlich als Autor präsentiert, und der Delegationsleiter war ein Ex-ZDF-Intendant, nämlich Karl-Günther von Hase, allerdings auch ehemaliger Botschafter (London).
 
Ja, Hans-Dietrisch Genscher verstand sein „Handwerk”, und er wußte, mit Menschen umzugehen. Bei dem Mittagessen in Bonn saß er am Nebentisch und plauderte und scherzte mit dem pfiffigen Thomas Grochowiak, der durch seine Kunstausstellungen im Rahmen der Ruhrfestspiele mit Recht berühmt geworden war und ein internationales Netzwerk geknüpft hatte.


© Joachim Klinger