…geht unter die Haut

Evelyn Waugh – „Gilbert Pinfolds Höllenfahrt“

von Frank Becker

…geht unter die Haut
 
Ein Konversationsstück“ nennt der Diogenes Verlag im Untertitel Evelyn Waughs späten kleinen Roman „Gilbert Pinfolds Höllenfahrt“ (1957), „Ein Genrebild“ war er bei einer früheren Übersetzung untertitelt. Beklemmend, jedoch mit sarkastischem britischem Humor griff Waugh darin autobiographisch sein eigenes Psychogramm eines Wahnsinns auf, der ihn aufgrund einer medikamentösen Brom-Vergiftung auf einer Seereise nach Ceylon ereilte.
Evelyn Waugh (1903-1966) hatte wegen seiner angegriffenen Gesundheit auf den Rat seiner Ärzte 1954 beschlossen, für eine Weile das wärmere Klima der kolonialen Tropen aufzusuchen. Die während der Schiffsreise in falscher Kombination eingenommenen Medikamente verursachten eine schwere psychische Störung, während der Waugh Stimmen hörte, sich von anderen Passagieren in einem Komplott verfolgt und bedrängt fühlte und unerhörte Vorgänge wie Meuterei, Mord und Spionage zu entdecken glaubte. Ein vitaler, die Psychose bekämpfender Überlebenswillen ermöglichte dem Schriftsteller damals die Rückkehr nach England aus eigener Kraft, wo sich nach dem Absetzen der Medikation seine geistige Gesundheit wieder einstellte. Drei Jahre später - nach der Fertigstellung des zweiten Teils „Officers and Gentlemen (1955)“ seiner Trilogie „Sword of Honour – beschrieb Waugh diese Höllenfahrt schonungslos in „The Ordeal of Gilbert Pinfold“.
 
Es ist sicher nicht sein bestes Buch, vermutlich aber das persönlichste und vielleicht ernsthafteste - und genau deshalb so besonders faszinierend. Mitzuerleben, wie die Schatten von Vergangenheit und Gegenwart, diffuse Ängste und neblige Ahnungen einen Menschen im Zustand einer fürchterlichen Psychose quälen, mit ihm den Ausbruch aus diesem Sog zu versuchen, die Kraft zu spüren, die ich überleben läßt, ist unerhört aufregend. Wie Pinfold/Waugh zunächst passiv, dann im „Gespräch“ mit den quälenden Gespenstern seines Wahns seine zunehmende Verstrickung erlebt, geht unter die Haut.
Das Mosaik von Wissen und Vermutung, Wahn und Wirklichkeit ermöglicht auch einen Blick auf die fatalen Folgen einer pharmazeutischen Fehlentscheidung, gibt dem psychologischen Laien einen Eindruck von der ungeheuren, schrecklichen Macht einer Psychose. Nicht nur erklärte Waugh-Fans, auch Ärzte und Psychologen sollten „Gilbert Pinfolds Höllenfahrt“ lesen, die durch den raffinierten Kniff des erzählerischen Rahmens zum literarischen Perpetuum wird.
 
Evelyn Waugh – „Gilbert Pinfolds Höllenfahrt“
Roman - Aus dem Englischen von Irmgard Andrae
© 2016 Diogenes, detebe 24340, 196 Seiten, Broschur - ISBN 978-3-257-24340-6
12,- € (D), 12,40 € (A)  / 16.- sFr
 
Weitere Informationen: www.diogenes.ch