Verborgene Liebe

Ein Brief

von Hans Christian Andersen

H.C. Andersen
Verborgene Liebe


An Henriette Wulff, Kopenhagen, am 3. Februar 1836
 
Andersen hat sich sehr verändert und nicht zu seinem Vorteil! Ich konnte jedenfalls den alten Andersen besser leiden!“ So lauteten ein paarmal Ihre Worte zu mir. Sie rollten wie das Quecksilber leicht dahin, wiegen aber schwer wie dieses. Heute Abend hatte ich die Absicht, Sie zu besuchen; wir hätten dann geschwatzt, Geschichten erzählt, ich hätte ein gut Teil von mir selbst geredet, und Sie hätten mir zuletzt die Hand hingestreckt und gesagt: „Doch, er ist der alte!“ aber ich änderte meinen Entschluß, ich möchte lieber im Geist einen Besuch machen, eine Epistel schreiben; da fließt die Konversation besser, und - ich bin ja Egoist - wenn ich schreibe, müssen Sie sich, zum mindesten beim Lesen des Briefes, ganz mit mir beschäftigen. Ich komme sehr wenig mit meinen Freunden zusammen. Ich weiß nicht wieso, mein Gefühl ist so stark wie je; aber es ist ein anderes in mir wach geworden: das des Tätigseins, des Häuslichseins. Meine Dichterjahre haben mit meiner Rückkehr aus dem Ausland begonnen; ich habe vielleicht noch vier oder sechs Jahre vor mir, um etwas Gutes zu schreiben, und diese muß ich wahrnehmen. Ich habe es gemütlich daheim, das Feuer knistert, und dann besucht mich meine Muse, erzählt mir seltsame Märchen, holt mir komische Figuren aus dem Alltagsleben, Adlige und Bürgerliche, und sagt: „Sieh dir die Leute an, die kennst du! Zeichne sie, und - sie werden leben!“ - Das ist zwar ein großes Wort; aber sie sagt es. Deshalb vernachlässige ich meine Freunde. Sie sprachen kürzlich mit mir über Ludvig Müller und seine Angehörigen, sagten sogar, man müßte fast einen bestimmten Grund annehmen, weshalb ich niemals zu ihnen ginge; daß dieser aber „so häßlich“ sei - Ihre eigenen Worte -, daß Sie ihn nicht annehmen wollten. Ich weiß, was Sie nicht sagen wollten, ich kann mich in alle Umstände hineinversetzen, in die Anschauungen der meisten Menschen. Was Sie nicht sagen wollten, war: „Jetzt, da der Vater gestorben ist, von dem Sie irgendeine Protektion erwarten könnten, verkehren Sie dort nicht mehr.“ War es nicht so? Das war menschlich gedacht; aber es machte mich traurig! Wie wenig ich an Vergünstigungen denke, dafür könnte ich Ihnen mehrere Beispiele geben. Wenn Sie nur mit Frau Laessöe sprachen, mit Student Voegt und mehreren von meinen Liebsten; Sie würden hören, wie wenig ich zu ihnen allen gehe. In dieser Hinsicht habe ich mich verändert, aber nicht im Herzen. Wie oft denke ich an sie alle! Ganz wie ein Sohn und Bruder klammerte ich mich an meine Lieben. Zu Ihnen, liebes Fräulein Jette, möchte ich oft hinauskommen. Weshalb gehe ich dann nicht? Ja, weshalb gibt es so vieles, was nicht geschieht und was wir dennoch möchten? Ich glaube und hoffe, daß Sie mir immer eine gute Schwester bleiben werden. Ich weiß auch, daß Christian mich recht von Herzen gern hat, und in einem Haus, in dem man zwei Herzen hat, kann man sehr wohl heimisch sein.
     Gestern besuchte ich Ihre Treppe. Die Mutter empfing keinen Besuch, die Tür war verschlossen, ich bekam also weder die Mutter noch Sie zu sehen; aber es gehe ihr viel besser, sagte man, und darüber freute ich mich besonders. Ich konnte mir wohl vorstellen, daß sie, eingepackt als Patient, nicht gern gesehen werden wollte. Ich ging in Ihre Malerstube hinauf, sah mich unter den bekannten Stücken um und bildete mir dann ein, ich wäre bei Ihnen gewesen und hätte gehört: „Er ist doch der alte Andersen!“ Nun bekomme ich Sie morgen (Donnerstag Mittag) nicht zu sehen; ich gehe mit Hertz und Heibergs zur Gesellschaft bei Collins. Überbringen Sie dem Bruder und dem Vater meine Grüße! Ganz bald komme ich nun zu Ihnen hinaus. Vielleicht kann ich dann auch der armen Mutter guten Tag sagen, die mich sehr gern hatte, als ich klein und brav war; aber ich werde sicher noch mal ganz hübsch werden! Meine liebe Schwester Jette nickt! Eine neue Arbeit, vielleicht ein Roman, beginnt in meinem Kopf aufzukeimen; noch ist mir nichts klar; aber ich habe es im Gefühl. Eine Unruhe, ein Flimmern von Ideen, das jedoch nicht recht zu Blitzen werden will! Ein angenehmes Geistesfieber! Wenn der Nebel steigt und Wolken bildet, werde ich Ihnen davon erzählen. Aber ich schwatze! Die Feder rennt, und die Arme muß alles schreiben, ganz wie es mir von den Lippen geht. Mein Brief kann Ihnen zum mindesten zeigen, wie meine Gedanken fließen, wenn ich ihnen freien Lauf lasse. Der Brief soll ja auch nicht gedruckt werden; ich unterhalte mich mit meiner lieben Schwester. Leben Sie wohl, bis wir uns sehen!
 
                                                                                                                                                Ich bin immer Ihr Ihnen brüderlich zugeneigter
                                                                                                                                           H. C. Andersen