Pizzi-Chaos, Glissandi, Schicksalsschläge

Das Amaryllis Quartett in Wuppertal

von Johannes Vesper

Foto © Johannes Vesper

Mozart. Lutoslawaski. Schubert.
Das Amaryllis Quartett in Wuppertal
 
Von Johannes Vesper
 
Vom ersten Schnee lassen sich Kammermusikfreunde nicht abhalten. Das Amaryllis-Quartett hatte zu Streichquintetten von Mozart und Brahms geladen. Leider kam es krankheitsbedingt dann zu einem konventionelleren Programm, gleichwohl zu einem exquisiten Kammermusikabend. Das Amaryllis-Quartett gastierte hier zum zweiten Mal. Gustav Frielinghaus, Lena Sandoz, Lena Eckels und Yves Sandoz, die nach Studien bei Walter Levin und beim Alban-Berg-Quartett seit ca. 10 Jahren zusammen musizieren, hatten schon im Voraus große Erwartungen geweckt.
 
Das Jagd-Quartett KV 458 in G-Dur gehört zu den sechs Joseph Haydn, dem „Erfinder“ des Streichquartetts, gewidmeten Quartetten und ist eines der populärsten der insgesamt 23 Streichquartette von W.A. Mozart. Die Widmung an Haydn, an den „berühmten Mann und teuersten Freund“, spiegelt Mozarts Respekt vor jenem, mit dem er, eng befreundet, gelegentlich gemeinsam auch Kammermusik gespielt hat. Mit Triller und Vorschlägen jubiliert im 1. Satz die virtuose 1. Geige gegen sich behauptende Mittelstimmen, und man erlebt, wie und warum mit dieser Musik der Name assoziiert wurde. Nach lebhaftem Spiel mit überraschender Agogik im Menuett erzählt die 1. Violine im bedeutenden Adagio mit aufsteigendem Thema eine ernste Geschichte, welche im Zwiegespräch mit dem Violoncello weiter abgehandelt wird. Zuletzt das Allegro assai (ital. sehr, genug), wiewohl doppeldeutig, wurde von den Musikern sehr flink und leicht mit sauberem, akkuraten, differenziertem Spiel angegangen. Zweistimmigkeit, Fugato, beide Violinen im unisono: Mozart hat hier alle Register des Streichquartetts gezogen - und der beglückte Zuhörer erwartete jetzt das seltener gehörte Streichquartett von Witold Lutoslawski (1913-1994) von 1964.
Wie zufällig beginnt tropfend im Pianissimo die 1. Geige mit ihrem Solo, dann kommen rhapsodisch schnelle Einwürfe, später schwebende Klänge der anderen Streicher dazu, immer wieder abgerissene Laute, bis das Cello explosionsartig aufgeregt loslegt. Jeder vorstellbare Klang der Instrumente mit Flageolett, Pizzicato, Zweistimmigkeit in Sekunden, Fortissimo-Einwürfen unmittelbar hintereinander erklingt im Hauptsatz. Nur selten brachte die 2. Violine melodische Phrasen. Nein, Melodien sind aus dieser Musik verschwunden. Im letzten Satz kämpfen alle mit aberwitzigem Forte in halsbrecherischen Tempi gegeneinander, dann Pizzi-Chaos, Glissandi in gespenstischem Pianissimo im Wechsel mit Crescendogesäge auf allen Instrumenten, welches bald ermattet, später Seufzerholz im ursprünglichen Wortsinn: starke, ruhige, abfallende Glissandi aller vier gegeneinander enden plötzlich unisono. Schlußton? Nein. Das Musikstück erstirbt im zirpenden Pizzicato. Ein starkes, makabres Stück Musik, dem das Publikum gebannt lauschte und von dem es sich mit großem Applaus befreite. Wie sind diese Noten wohl notiert? Gustav Frielinghaus hatte zu Beginn des Abends darauf hingewiesen, daß sie im Quartett normalerweise sehr viel Wert auf gemeinsames Zusammenspiel legen, aber in diesem Stück mit seinen Klängen bleibe vieles auch dem Zufall überlassen. Es gibt keine Takte, festgelegt wurde vom Komponisten, wann einzelne Soli beginnen und daß erst weiter gespielt wird, wenn z.B. die 1. Violine den nächsten Themenkomplex erreicht hat. Musik also hoher Komplexität, Chaos? Jedenfalls überhaupt keine U-Musik für großes Publikum.  
        
Nach der Pause beginnt Franz Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ unisono mit den Schicksalsschlägen. Brillant, durchsichtig, voll romantischer Melodik mit großen Spannungsbögen und intensivem Spiel nimmt der 1. Satz seinen Lauf, wobei sich eine Violinsaite dem Temperament nicht gewachsen zeigt und durchknallt. Der Zuhörer kommt nach Saitenwechsel so in den erneuten Genuß des 1. Satzes. Das Thema des 2. Satzes wird mit sparsamem Vibrato, in vollem Legato und mit liegenden Bögen vorgetragen: ein eigenartiger Klangeffekt. Aber dann entwickelt sich Schubertscher Klang mit dem tenoral singenden Cello, in der 2. Variation frappierende Klangfülle im Wechsel mit delikatem Piano. Später dann ersterbender Herzrhythmus der Bratsche. Nach derbem, kräftigem Scherzo huscht in affenartigem Tempo der letzte Satz herein. Eher Sommernachtstraum als Winternacht mit Schneefall hält man die dann noch gemeisterte weitere Temposteigerung im Finale furioso kaum für möglich. Dank Augenkontakt und Körpersprache funkt es musikalisch auch bei Schubert nuancenreich und begeisternd.  Für den langen und starken Applaus des Publikums im vollbesetzten Emmaus-Zentrum bedankt sich das Quartett mit der Choralbearbeitung J.S. Bachs „Vor Deinen Thron tret` ich hiermit“. Himmlisch, wahrhaftig ein Präludium zum ewigen Leben. 


Foto © Johannes Vesper
 
Diskographie: „Blue“ mit Streichquartetten von Debussy, Ravel und Yang. „Green“ mit Streichquartetten von Schumann und Kurtág. „Red“ mit Streichquartetten von Berg und Beethoven „White“ mit Streichquartetten von Haydn und Webern, Franz Schubert: Oktett F - Dur, D 803
 
Weitere Informationen siehe:  amaryllis-quartett.com/