Nichts ist komischer als das Unglück

Roberto Ciulli inszeniert Shakespeares Erstling „Titus Andronicus“

von Frank Becker

Titus Andronicus
 
Remscheid, Teo Otto Theater: Die Bühne ein Globe, eine Shakespearesche Arena mit rotem Sägemehl - schon getränkt vom Blut ungezählter Gemeuchelter? Roberto Ciullis Inszenierung für das Theater a.d. Ruhr geht zurück zu den Wurzeln. Im Jahr 1593 verlangte das Publikum derben Humor und Gewalt, und das bedient der Stratforder in seinem Erstling, einem kruden Stück ohne historischen Hintergrund, ohne Moral oder tieferen Sinn. Helmut Schäfer hat dem Text in neuer Übersetzung eine zeitgemäße Gestalt gegeben, die mit Wortwitz das Burleske der völlig irrwitzigen Greuel unterstreicht, denen sich der Zuschauer ausgesetzt sieht.
 
Es ist eines der seltenst aufgeführten Stücke Shakespeares. Verständlich. Wer will sich schon gerne ein Schlachtfest anschauen, dessen Bilanz lautet: „14 Tote, 3 Hände, eine Zunge“? Vergewaltigung, Verstümmelung, abgeschlagene Köpfe auf Silbertabletts, der Mutter die gekillten Söhne als Fleischpastetchen serviert. Folter und Wahnsinn, Kannibalismus, Mord mit Messer und mit Gabel. Ein Stück über Gewalt und Krieg, ohne deren Reflexion. Versagen wir uns eine Inhaltsangabe und die Erläuterung, wer wen wie warum abkehlt. Unwichtig. Nur Mordlust und Rache zählen. Was bei Shakespeare vielleicht nur ein populistisches Gemetzel war, wird bei Ciulli zum raffinierten Spiel mit dem Zuschauer. „Nichts ist komischer als das Unglück“, sagt Beckett. Unter diesem Aspekt ist „Titus Andronicus“ saukomisch.
 
Heinke Storks Kostüme und sind den Augen eine Lust, Gralf-Edzard Habbens Bühnenbild mit  Raubtierlaufgitter perfekt, die neuen Texte ein Vergnügen. Die Darsteller dieses Circus Maximus, allen voran Steffen Reuber als Saturnius, Maria Neumann als Titus, Peter Schröder als Lucius,  Nicola Thomas als Lavinia und Klaus Herzog als Chiron bieten bestes Theater, wie es auch Samuel Pepys zugesagt hätte. Ciulli wäre aber nicht Ciulli, beließe er es dabei. Eingelullt durch derbe Späße, durch einen hünenhaften Black Minstrel-Mohren, durch „harmlosen“ Mord, bei dem sich der Bühnen-Dolch verbiegt, wird das amüsierte Publikum vom Unvorstellbaren kalt erwischt. Wo eben noch der barbarische Mörder seine Mutter „Mutti“ nannte, geht das Jammerbild der geschändeten Lavinia, die Zunge herausgerissen und die Hände abgeschlagen, bis ins Mark. Aus der Mischung von Splatter, Slapstick und Jabberwocky wird mit einem grausamen Schlag die Konfrontation mit der widerwärtigen, allgegenwärtigen Grausamkeit menschlicher Natur. Auch der Mohr hat seine (brave) Schuldigkeit getan und entpuppt sich als Inbegriff des Bösen.
 
Damit und mit einer Bühne voller Leichen wird der Zuschauer entlassen und freut sich auch noch – denn das war richtiges Theater.
 
Frank Becker, 27.3.04