City of Joy

Die Chitpur-Road in Kalkutta. Ein Spaziergang.

von Johannes Vesper

Foto © Johannes Vesper

Die Chitpur-Road in Kalkutta.

Ein Spaziergang.
 
So viel Wille von Tag zu Tag; nur überm Verkehr, der stockt, sich verkeilt und löst, um abermals zu versteinern, jammern Hupen und jaulen Sirenen, als müsse ein jeglicher Augenblick auf ewig verklagt werden“ (Günter Grass über Kalkutta)
In den kleinen Gäßchen Kurtomoglus – das ist das Töpferviertel nördlich des Zentrums der Metropole Kalkutta- begegnen uns immer wieder Männer mit nacktem Oberkörper, einem Handtuch um die Lenden gewickelt, in Badelatschen. Sie kommen vom Hugli (Ganges) zurück, wo sie sich gereinigt haben. Zwischen Strom und Bahngleis – da fahren tatsächlich Züge der Staatsbahn - leben und wohnen auch Familien mit ihren Kindern, die sich auch im Strom waschen. Er muß alles reinigen und ist doch selbst belastet. Er nimmt die Abwässer der Millionenstadt auf, in ihm wird Geschirr gewaschen, an ihm wird gebetet, in ihn wird die Asche der am Ufer verbrannten Verstorbenen gestreut und in ihm landen die Götterfiguren nach Durga Puja, dem jährlichen Fest zu Ehren der Göttin Durga jeweils im Herbst.


Badender auf dem Heimweg vom Hugli - Foto © Johannes Vesper


Kindheit in Kalkutta - Foto © Johannes Vesper
 
Kali, die vielarmige Zerstörerin der Dämonen, die im Weltall zusammen mit ihrem Schakal herum heult, der elefantenköpfige, dickbäuchige Glücksbringer Ganesh mit seiner quiekenden Ratte, und all die anderen indischen Götter entstehen hier in Kurtomoglu aus Holz, Draht, Stroh, Lehm und werden in die ganze Welt an hinduistische Gemeinden verkauft. Die indisch-göttlichen Familienverhältnisse erscheinen unübersichtlich: Die zehnarmige Kali ist eine andere Erscheinungsform der Obergöttin Durga oder auch eine Tochter. Jedenfalls wird Durga/Kali in Kalkutta groß gefeiert. Das Fest Durga Puja ist schon im 17. Jhdt. bezeugt, wird aber erst seit 1910 öffentlich begangen: 5 Tage hinduistischer Wahnsinn, alle außer Rand und Band. Die Götter werden auf Wagen durch die Stadt gefahren. Tag und Nacht tanzt man zu lauter Musik in allen Straßen. Ob die Lage am Strom für diesen Irrsinn ursächlich verantwortlich ist? Denn nicht nur am Ganges, auch am Rhein in Köln, Düsseldorf oder Mainz wird in vergleichbarer Weise gefeiert. In Kalkutta hochverehrt, ist Kali vielleicht auch die Namenspatronin der Stadt. Ihr Tempel im Süden Kalkuttas wurde jedenfalls dort erbaut, wo nach Zerstückelung der Göttin beim Streit mit Obergott Shiva ihr abgehackter kleiner Zeh auf die Erde fiel. Der Kalighat-Tempel gilt als einer der wichtigsten Wallfahrtsorte Indiens. Noch heute werden dort regelmäßig Tiere geopfert und das Fleisch an die Armen verteilt.


Barabazar am Abend - Foto © Johannes Vesper


Barabazar am Abend, Garküche - Foto © Johannes Vesper


Barabazar am Abend, Schläfer - Foto © Johannes Vesper

 
Zwischen Kurtomoglu und der Innenstadt verläuft durch Barabazar die alte Chitpur-Road (heute Rabindra Sarani), die ehemalige Pilgerstraße zwischen den Tempeln im Norden und im Süden Kalkuttas. Um die Herkunft des Namens „Chitpur“ ranken sich Legenden. Vielleicht stammt er von einem damals berühmten Banditen des frühen 17. Jahrhunderts aus dem Dorfe nördlich von Kurtomoglu, der Menschen und Tiere am 1610 dort gegründeten Chiteswari-Tempel geopfert haben soll. Der Tempel wurde beim großen Erdbeben 1737 zerstört. Das Dorf wurde 1717 zusammen mit 38 anderen den Engländern in Kalkutta überlassen, sozusagen als Dank für die erfolgreiche Behandlung des indischen Kaisers Farukshiyar durch den englischen Militärarzt Hamilton. Seit der Gebietsreform 1931 gehört Chitpur zur Stadt Kalkutta und seit 1879 – vor 1915 als Pferdebahn - schiebt sich heute die alte Straßenbahn, die einzige Indiens, jeder Wagen mehr Wrack als Waggon, im Schritttempo durch den chaotischen Verkehr. Im Innern stehen die Menschen wie Sardinen, und die stets offenen Türen sind verstopft durch an den Griffen verknotete Menschenknäuel, denen bei meist stehenden Verkehr dann nicht einmal der Fahrtwind zugute kommt. Der Kampf um einen Platz in Bus und Bahn symbolisiert hier den täglichen Überlebenskampf. Jedenfalls ist die indische Gesellschaftsordnung, das Kastenwesen, im ÖPNV Kalkuttas aufgehoben.

 
Der permanente Stau - Foto © Johannes Vesper

Die Straße verbindet die schwarze mit der weißen Stadt, wie man hier in Kalkutta sagt. In der weißen Stadt im Süden herrschten und wohnten die Engländer, während ursprünglich Bengalen die nördliche schwarze Stadt bevölkerten. Im Lauf der Zeit kamen dann zahllose Zuwanderer aus Bihar, Uttar Pradesh, Orissa, Nepal, allein 2 Millionen aus Bangladesh seit den 1960er Jahren, Chinesen, Nepalesen dazu, alle mit eigener Sprache, eigenen Bräuchen, eigenen Festen und Traditionen. Barabazar ist das Zentrum des Bevölkerungsgemischs der schwarzen Stadt. Hier ist was los. Auf den Straßen tobt der Verkehr. „Obey the rules: Please Horn“ ist auf jedem Lastwagen hinten aufgemalt. Diese Verkehrsregel wird, wohl als einzige, beachtet, ständig gehupt, mit allen Signalhörnern gelärmt und Sirenen gejault. Hier wird gekauft, verkauft, gehandelt. Hier schiebt, kämpft man sich, bedrängt von allen Seiten, unter gigantischen Kopflasten und zwischen mit Kasten, Paketen, Teppichrollen oder grünen Kokosnüssen hochbeladenen Rikschas durch die Gassen. Zwischendrin schläft jemand auf einem Baugerüst und die Garküchen dampfen und kochen, was das Zeug hält.


Abenteuer Straßenbahn - Foto © Johannes Vesper


Verkehrsmittel Rikscha - Foto © Johannes Vesper
 

Ein Wort zu den Rikschas: Die wurden um 1900 von chinesischen Einwanderern nach Indien gebracht. 1996 versuchte die Regierung von Westbengalen das für menschunwürdig gehaltene Verkehrsmittel gesetzlich zu verbieten, was aber zu gewalteigen Protesten führte. Der Pferdemenschen-Rikscha bedienen sich hier nach wie vor Inder und Touristen. Die Fahrradrikscha ist inzwischen weiter verbreitet und Elektrorikschas wurden 2011 eingeführt, spielen in Kalkutta selbst keine Rolle, werden aber auf der anderen Seite des Hugli in Howrah gerne genutzt.
 
Am Rande von Barabazar werden die großen und kleinen Laster geparkt, aus- bzw. auf Rikschas umgeladen. Alles, was hier verkauft wird, muß herbeigeschafft werden. Abends im Dunklen findet man sich in dem Verkehrsgewusel nur mühsam zurecht, bis die hohe angestrahlte Nakhoda-Moschee zumindest örtliche Orientierung bietet. In der größten Moschee Bengalens, die erst vor knapp 100 Jahren erbaut wurde, wäscht man sich die Füße, betet und begrüßt sehr freundlich den Ausländer.


Nakhoda-Moschee - Foto © Johannes Vesper

 
Nakhoda Moschee, Betsaal - Foto © Johannes Vesper
 

Zum Hugli (Ganges) hin, fast schon unter der Howrah-Bücke gerate ich auf den am Abend dann ruhigeren Blumenmarkt. Und nach dem nächtlichen Geschiebe über die Howrah-Brücke – dieser stählerne Tatzelwurm über den Hugli ist eine der verkehrsreichsten Brücken der Welt- findet sich am Badeghat gegenüber ein stillerer Platz für den nachdenklichen Blick auf diese pulsierende, wirbelnde, schreiende, lärmende Metropole am Ganges, den Brennpunkt der Armutsprobleme Indiens (siehe auch ePostkarten aus Kalkutta www.musenblaetter.de).


Howrah-Brücke - Foto © Johannes Vesper
 
Redaktion: Frank Becker