Ein freies Leben

von Karl Otto Mühl

Ein freies Leben

D
as war das, was Heinz, der Kollege neben mir, täglich anstrebte und sich unablässig wünschte. Es war seine oberste Maxime, und er hatte sie nötig, denn wir waren kleine Angestellte in einer Industriefirma. Hier ging der Prokurist drohend durch das Großraumbüro, und, wenn er jemand zurechtwies, hörte es jeder. Manchmal schrie er.
Diskretion war nicht gewollt. Eher schon unsere geduckten Köpfe, unsere verständigenden Blicke rechts und links, die spähenden Blicke, ob ein Vorgesetzter durch den Mittelgang kam. Und das Allerschlimmste war, wir merkten es kaum, was für eine Art Leben das war. In jedem Falle war es besser als der Krieg, der erst vor wenigen Jahren zu Ende gegangen war.
 
Hier saßen wir an Schreibtischen nebeneinander: der ehemalige Berufsoffizier, ich, der ehemalige Lehrling; Eckhaus, der jüdische Flüchtling, der aus Südamerika zurückgekommen war, die heimgekehrten Soldaten, die älteren Kollegen und Vorgesetzten, die nicht in den Krieg gemußt hatten, Rußlandheimkehrer, die selbst nicht verstanden, daß sie die Schrecken der Lager überlebt hatten. Und doch hatte es selbst bei denen, die in russische Bergwerke mußten, Liebeserlebnisse mit russischen Frauen gegeben. Ich hörte von den merkwürdigsten Ereignissen mit rußgeschwärzten Frauen. Hunger nach Lust, wo immer sie möglich war.
Den Krieg aber schien es hier in der Firma nicht gegeben zu haben. Hier taten alle so, als sei noch 1928, manchmal auch 1939; das heißt, man schien nicht anders zu denken als damals. Sogar ein bißchen Antisemitismus war fühlbar, aber eher bei uns da unten als oben in der Geschäftsleitung. „Der ist Jude“ sagte einer über den Emigranten, der jetzt wieder bei uns war. Er sagte nichts weiter, und so war auch nichts zu beanstanden.
Grüne Zweige schwankten vor den Fenstern, die immer noch die alten Fabrikfenster mit den kleinen, eingefaßten Segmenten waren. Nicht zu sehen, aber zu hören, war die Eisenbahn, die, nur getrennt durch einen Weg, an der Fabrik vorbei donnerte. Das Leben hier schmerzte nicht, aber es war eng.
 
Heinz hatte die russische Kriegsgefangenschaft auf seine Weise überlebt: Er hatte geträumt. Er hatte Tag und Nacht geträumt. Nicht Hunger, nicht Kälte, nicht Schwäche, nicht Arbeit, nicht Verzweiflung konnten ihn vom Träumen abhalten. Ich habe keine Ahnung, was er geträumt hat, aber hauptsächlich wird es das Essen gewesen sein, und erst danach die Frauen. Von beidem kann man unablässig träumen, es kommt zu keinem Endpunkt, und das wäre ja auch schade. Und bei der Sache selbst, um die kurz zu streifen, da konnte man schöne Dinge betrachten, man konnte sie dann treiben und war danach jedes Mal sehr zufrieden. Denn dies glückte manchen. Aber die meisten starben.
 
Vom ersten Mal mit einem Mädchen nach seiner Heimkehr hatte er Andeutungen gemacht. In den elterlichen Wohnungen ging es nicht, aber auf dem weichen Waldboden bei sinkender Nacht. Danach brachte er sie heim zum elterlichen Haus, das am Waldrand stand. Die Familie wohnte im Dachgeschoß in zwei Zimmern. Es war eine große Holzhütte mit einem Dachboden, der bis zur Mitte des Raums ging. Da oben hauste das Mädchen, und es war wie ein Bild aus dem Theater, wenn man sie da oben auf dem Bettrand sitzen sah und nähen. Es gab in der zerstörten Stadt noch keine freien Wohnungen nach dem Krieg. Das Mädchen hieß Lotte.
Nach allem, was ich erfuhr und hörte, was es ein freundliches, stilles Verhältnis, das Heinz und Lotte miteinander hatten. Sie besuchten zusammen ihre Freunde, tranken sonntags Kaffee in einem Ausflugslokal, hatten dann doch ihre heimlichen Stunden in seinem Zimmer. Sie besorgte zusätzliche Lebensmittel für ihre Familie und seine, denn sie verdiente Geld mit der Anfertigung von Puppen. Und sie erfuhr alles über seinen Beruf und seine Erlebnisse, wollte viel wissen, lernte schnell, ging in Sprachkurse. In den Kriegsjahren hatte sie eine Ausbildung zur Schneiderin gemacht. Sie suchte den Weg aus der Holzhütte in die Welt.
Die beiden sind mir ein paar Mal begegnet, als sie spazieren gingen. Sie wirkte sehr ruhig, sehr still, aber sie schien auch von niemand eingeschüchtert zu werden.
 
Manchmal erzählte Heinz von einem hartnäckigen Mädchen namens Marianne, die schon viel von ihm gehalten hatte, bevor er zum Militär mußte. Die hatte schon in den Kriegsjahren behauptet, sie werde nach dem Kriege Heinz heiraten, und sie erschien nach seiner Rückkehr aus Rußland auch mehrere Male bei ihm zuhause. Seine Eltern, gutmütige Leute, waren immer freundlich zu ihr wie auch zu jedem, der eine Verbindung zu ihrem Sohn hatte. Sie durfte damals, als er noch in Kriegsgefangenschaft war, auch einmal bei ihnen übernachten. Sie streckte sich wohlig in seinem Bett, als ihr die Mutter Gute Nacht sagte und meinte: „Heinz, hast du ein schönes Bett!“ Die Mutter hatte es ihm später lächelnd erzählt.
Sie kam immer noch zu kurz Besuch, ob er nun zuhause war oder mit Lotti zusammen. Sie hatte schon begonnen, beruflich Karriere in ihrer Firma zu machen. Von dort brachte sie manchmal Textilien als Geschenk mit, auch Hemden für Heinz. Und der mußte es eines Tages schließlich auch merken: Sie hatte es immer noch unbeirrt auf ihn abgesehen. Schließlich blickte sie ihn immer lange vielversprechend an.
 
Das ging nur einige Monate gut. Dann war sie eines Tages wieder zu Besuch gekommen. Sie und Heinz waren allein im Wohnzimmer und da – da machte sie eine winzige Bewegung. Heinz konnte nicht sagen, was es gewesen war, eine kleine Drehung der Hüften, ein Ruck, in jedem Falle eine Bewegung, die seinen Blick nach unten lenkte. Die Bewegung drückte etwas aus. Es war eine Nachricht.
Nichts weiter. Aber es schoß in ihm heiß durch Körper. Er brachte sie zur Straßenbahn und sie küßten sich zum Abschied. Von diesem Augenblick an hatte nichts anderes mehr Platz in seinem Kopf. Er sagte Lotte beim nächsten Treffen, daß sie sich trennen müßten. Sie nickte ernst, schwieg aber. Nach einigen Tagen besuchte sie einmal seine Mutter und weinte. Die Mutter berichtete ihm mit wenigen Worten davon.
Am nächsten Tag kann Marianne wieder, da dauerte es nicht lange, bis sie in seinem Zimmer verschwanden und es machten. Es waren berauschende Augenblicke für ihn, berauschender als alles zuvor, und das ging mehrere Wochen so.
 
Ab dann dachte er auf einmal nur noch selten daran, obwohl alles so weiterging wie bisher. Viel mehr dachte er an ihre gelegentlichen Bemerkungen, wie sich eine schöne Wohnung vorstelle. Sie sprach immer öfter von solch einer Wohnung, und Heinz begann, damit auch die Vorstellung von Sonntagsspaziergängen mit Kinderwagen zu verbinden.
Da packte ihn Angst. So etwas hatte er immer befürchtet. Irgendwann mußte er mit gepreßter Stimme gestehen, daß er eigentlich überhaupt nicht an Heirat denke, so lebe man doch ganz gut, und außerdem wisse er nicht, wohin ihn sein Weg noch führen werde.
Sie sah ihn kalt an und sagte: „Du wirst überhaupt keine Frau finden.“ Drehte sich um und ging. Nach einigen Metern kam sie zurück und sagte: „Mein Leben ist doch jetzt kaputt.“
Über so weitreichende Folgen wunderte er sich. Aber sie war weg und er hörte über Jahrzehnte nichts von ihr und über sie.
 
Von da an war Heinz allein. Eines Tages begegnete er auf der Straße zu seinem Erstaunen seinem Kollegen Frank - Hand in Hand mit Lotte. Die beiden hatten geheiratet. Sie kannten sich vorher flüchtig durch Heinz. Zu Frank hatte er immer eine freundliche Kollegen-Beziehung gehabt. Sie hatten sogar manchmal abends nach Dienstschluß ein Glas Bier zusammen getrunken.
Natürlich konnte er Frank anfangs nicht über die Familiengründung ausfragen, aber nach einiger Zeit erzählte der ihm doch, wo sie wohnten – sie hatten einige Zimmer in einem Haus in einem Park bekommen – und, daß Lotte jetzt selbstständige Schneidermeisterin war.
 
Das Paar war erst anderthalb Jahre verheiratet, da sagte Frank eines Tages in der Firma zu Heinz: „Lotte ist im Krankenhaus. Sie hat Krebs. Und das mit vierundzwanzig Jahren.“
Jetzt durfte Heinz täglich nach ihr fragen. Sie war operiert worden, man hatte einen ungewöhnlich großen Tumor aus ihrem Bauch geholt. Von der Möglichkeit, daß Heinz sie besuchen könnte, wurde nie gesprochen. Heinz wagte auch nicht, zu fragen.
Abends ging er manchmal in der Nähe des Krankenhauses hin und her. Ich bin schuld, sagte er zu sich. Ich bin ein Lump. Ich werde nie mehr eine Frau einladen.
 
Einige Tage später blickte Frank von seinem Schreibtisch zu Heinz herüber und sagte: „Wir haben sie beerdigt. Zum Schluß hat sie nur gesagt ´Ich kann nicht mehr`.“
 
Ich weiß, daß Heinz danach viele Jahre allein war.
 
 
© 2010 Karl Otto Mühl