Nie mehr fünfzehn

von Jürgen Kasten

Foto © Jürgen Kasten
Nie mehr fünfzehn
 
Der pickelige Jüngling versuchte sich im Schatten zu verstecken. Ein vergebliches Unterfangen, denn der Raum war gut beleuchtet. Zwar sog das dunkle Parkett ein wenig Licht auf, aber lediglich die Ecken lagen im Halbschatten. Dort standen jedoch die großen Topfpflanzen, Gummibäume und Palmen mit ausladend dunkelgrünen Blättern, staubbelegte Kunststoffgebilde. Es roch nach Schweiß und Angst. Verstecken war keine Option. Die Augen des strengen Tanzlehrers waren überall. Sein Blick erfaßte meine jämmerliche Figur.
Diese Szene schwebte mir als erstes vor Augen, verschwommen zwar fünfzig Jahre überbrückend, aber klar genug, mich unwohl zu fühlen. Unwillkürlich fuhr meine Hand an den Hals, als wolle sie den engen Kragen des schon leicht vergilbten Nylonhemdes lockern.
Aus dem Konfirmationsanzug war ich längst herausgewachsen. Die Ärmel waren zu kurz, die Socken schauten aus dem Beinsaum hervor und wo ich mit den Händen hin sollte, wußten nicht einmal sie selber. Der ungeschickt gebundene Schlips nahm mir die Luft zum Atmen. Jetzt unsichtbar sein. Zu jener Zeit gelang mir das im Traum mehr als einmal. Hier jedoch zeigte sich kein Ausweg. Ich stand hilflos mitten im Licht, sichtbar für jeden im Raum. Die fordernde Stimme des Tanzlehrers ließ keine Ausflüchte zu: „Auffordern, meine Herren, Sie sollen die Dame ihrer Wahl auffordern. Nicht so steif. Schwungvoll auf die Damen zugehen, eine tiefe Verbeugung und ihr dann den Arm reichen.“
Langsam, erst mal abwarten. Lächerlich machen konnte ich mich jederzeit.
Ich schwitzte. Der Raum war überheizt. Die Pickel auf der Stirn hatte ich mit irgendeiner Tinktur meiner Mutter zu übertünchen versucht. Sie juckten. Meine sorgsam gelegte Elvistolle war inzwischen in sich zusammengefallen. Da half auch das Gel nichts.
Der Tanzlehrer ließ die Nadel auf die Platte gleiten. Sie kratzte. „Vor – zurück – vor – zurück - Step seitlich. Ja es geht doch, meine Herren.“
Mich meinte er nicht. Meine Füße verstanden die Schrittfolgen nicht.
Was machte ich hier eigentlich? Ich war fünfzehn. Freiwillig wäre ich nie in diesen Tanzkurs gegangen. „Es gehört zum guten Ton“, hatte meine Mutter gesagt, „alle machen das“. Dagegen konnte ich nichts sagen. Wenn es doch alle machen? Auch Olaf mußte mitmachen. Wir waren Nachbarn und gingen in die gleiche Klasse der Carl-Lührig-Realschule für Jungen. Für Mädchen gab es eine eigene benachbarte Schule. Eine hohe Mauer trennte die Pausenhöfe. Mädchen, das war eine Spezies, die mir noch unerschlossen war.
Bereits nach der zweiten Tanzstunde machte Olaf nicht mehr mit. Er hatte eine gute Ausrede. Sein Arzt verbot ihm jede unnötige Bewegung. Er hatte irgendetwas mit der Wirbelsäule.
Ich quälte mich ein paar Stunden weiter, sehnte jede Pause herbei, in der mein schmales Taschengeld den Genuß einer Cola zuließ und eine lässig gerauchte Zigarette, die Coolness vorgaukelte, so würde man heute wohl sagen. Bald ging ich nicht mehr hin, allerdings pünktlich aus dem Haus. Erst als der Zwischenball anstand, gestand ich meinen Eltern das Schwänzen. Deren Reaktion ist mir nicht mehr in Erinnerung, muß also nicht so schlimm gewesen sein.
 
Wir sitzen entspannt auf der Terrasse, schauen den träge dahin ziehenden Federwolken zu und öffnen mit innerem Blick alte Schubladen, gefüllt mit verstaubten Erinnerungen. Wir treffen uns monatlich, nennen es Rentnerfrühstück und stellen erstaunt fest, daß diese Zusammenkünfte immer mehr zur nostalgischer Vergangenheitsbewältigung ausarten. Kein Wunder, wird die Zukunft doch weniger Raum einnehmen, als die lange Vergangenheit, in der sich Geschichten ansammelten, deren Wahrheitsgehalt langsam verblaßt. Gut, auch die Gegenwart spielt in unserer Gesprächsrunde eine nicht unwesentliche Rolle. Ich schlaf nicht mehr richtig durch, wird geklagt. Ich hab´s im Rücken, berichtet der Zweite und der Dritte im Bunde hadert mit seinem nachlassenden Gehör.
Als es uns bewußt wird, daß wir wie alte Leute beim Kaffeeklatsch klingen, zu denen wir uns natürlich nicht zählen, wechseln wir schnell das Thema. Die Analyse der aktuellen politischen Lage verspricht allerdings auch keine Entspannung. Zu gegensätzlich sind hier die Ansichten. Das Gespräch versiegt.
 
Bis einer fragt: „Kennt eigentlich noch jemand Wolfgang Neuss?“ Und plötzlich beginnt das Kino im Kopf seine Fortsetzung. Die Geschichten nehmen Gestalt an, wollen erzählt werden.
„Kennen ist zuviel gesagt“, meint einer. „Ich hatte ihn mal in Berlin besucht. Da gab er sich aber schon als zahnloser, bekiffter Stadtindianer und kommentierte polemisch das Tagesgeschehen. Kein Vergleich zu dem bissigen politischen Kabarettisten, der er einmal gewesen war.“
Ich hatte seinen Namen das erste Mal gehört, da muß ich fünfzehn gewesen sein. 1962 war das. Im Fernsehen lief der Mehrteiler „Das Halstuch“ nach einem Krimi von Francis Durbridge, ein echter Straßenfeger. Die ganze Nation saß vor der Glotze und in den Zeitungen und in der Schule wurde über nichts anderes gerätselt und geredet, wer wohl der Mörder war. Und weil ich so quengelte, durfte ich den letzten Teil mit ansehen. Ja - durfte, ich war fünfzehn, ein Kind, so war das damals.
Allerdings hatten wir zu dieser Zeit noch keinen Fernseher; aber es gab Nachbarn. So saßen wir an diesem Abend eng zusammengequetscht in einem Wohnzimmer des Nachbarhauses, denn viele hatten noch kein eigenes Gerät. Salzstangen und Erdnüsse lagen bereit und wahrscheinlich waren die Erwachsenen wieder ziemlich angeheitert, während wir Kinder uns an Limonade labten. Natürlich sprachen alle über Wolfgang Neuss, den Vaterlandsverräter, wie ihn die Bildzeitung nannte. Neuss hatte in einem Interview den Namen des Mörders verraten. Ich weiß nicht mehr, wer der Mörder gewesen war. Wahrscheinlich Dieter Borsche, der guckte immer so streng, oder vielleicht auch Heinz Drache. Mit dem Einstecktuch in seiner Anzugjacke und seinem Lächeln schien er immer so unbedarft, aber irgendwie hintergründig.
Gerade las ich im Internet, daß es Dieter Borsche als John Hopedan war, und daß ein Teil der Außenaufnahmen in Remscheid-Lennep gedreht worden war.
 
Jedenfalls wurde unser Frühstücksgespräch nun lebhafter. Die alten Geschichten bahnten sich einen Weg an die Oberfläche des Hirns und sprudelten über. Unser fünfzehntes Lebensjahr wollten wir noch einmal Revue passieren lassen.
Lohnt es sich überhaupt, Vergangenem nachzuspüren? Heißt es nicht, man soll die Vergangenheit ruhen lassen? Aber nicht alle Kalenderweisheiten verbreiten Wahrheiten. Die Vergangenheit ist Teil des Lebens, des Erlebten. Wenn sie wieder an die Oberfläche schwappt, muß sie irgendeine besondere Bedeutung gehabt haben. Welche denn? Eine Antwort fiel mir nicht ein. Gleichwohl schien mir, als hätte ich eine längst vergessene Schublade geöffnet, um verblaßte Fotos mit Erinnerungen zu beleben.
Ich sah den Wohnblock an der Castroper Straße in Bochum. Vor uns das Stadion, hinter uns die Polizeikaserne. Nebenan der Kirmesplatz und auf der anderen Seite das Gefängnis, dahinter dann die Stahlwerke. Getöse und Funkengestöber am grauen Himmel, wenn der Abstich am Hochofen erfolgte. Die Wäsche, die im Hof zum Trocknen hing, sie war so schmutzig wie zuvor.
Mich ärgerten nur die vertanen Stunden, die ich in der Gemeinschaftswaschküche an der Wäschemangel verbracht hatte. Eine handbetriebene, schweißtriefende Angelegenheit.
An der Kirmes sah ich mich hinunter zur Krümmede fahren, weiter über die Bahnbrücke und dann über die Holperstrecke der Königsallee. Das Basaltpflaster rüttelte mich auf meinem alten zusammengeschusterten Fahrrad durch, bis es über Wiesen- und Feldwege zur Ruhr hinunter ging. Das Flußfreibad war mein Ziel. Auch das endete `62. Der Bau der Ruhruniversität verwandelte Wiesen und Wege in Schlammwüsten. Bochum wurde zur aufstrebenden Großstadt. Das Opel-Werk entstand im gleichen Jahr. Inzwischen ist auch das schon wieder Geschichte.
 
Auch zu Hause fand sich nach und nach bescheidener Wohlstand ein. Vor der Tür stand ein gebrauchter Opel-Rekord, im Wohnzimmer eines Tages ein Fernseher.
Ich kam nachmittags nach Hause, staunte über das Gerät, vor dem die ganze Familie saß und auf irgendetwas wartete. Dann sah ich ihn. Für einige Sekunden erschien mein Vater auf dem Bildschirm. Ernst blickte er in die Kamera, dann vielsagend auf einen weit entfernt stehenden Schornstein irgendeiner Zeche irgendwo im Ruhrgebiet, schaute wieder in die Kamera und drückte dann den Hebel der Zündmaschine entschlossen nach unten. Der Schornstein fiel um. Schnitt und aus.
Doch das Jahr ging weiter. Nach dem Fernseher folgte der riesige, Buchen-imitierte Schrank, der sich Stereo-Kommode nannte. Auf dem Plattenteller drehten sich Scheiben, die Conny Froboess oder „Der lachende Vagabund“ von Fred Bertelmann erklingen ließen. Das war nicht unsere Musik. Wir standen an der Grenze zur aufmüpfigen Jugend. Die Beatles brachten mit „Love Me Do“ ihre erste Single heraus, die Stones gründeten sich. „Hottentotten-Geschrei“, schimpfte mein Vater, „Deine Haare sind schon wieder zu lang“, meine Mutter, „was sollen denn die Nachbarn sagen“?


Foto © Jürgen Kasten

War mir egal, was die sagten. Der Aufbruch in eine neue Ära begann. Jetzt war es an der Zeit, Verbote zu durchbrechen. Nikotin und Alkohol waren das Ziel unseres Verlangens. Beides lag auf dem Weg. Unser Schulweg führte uns durch den Stadtpark, vorbei am Parkrestaurant. Mit weichen Knien gingen wir hinein, waren um die Mittagszeit die einzigen Gäste. Der Mann hinter der Theke verzog keine Mine, zapfte das Fiege-Pils, und ohne Zögern schluckten wir das bittere Gebräu hinunter.
Neue Horizonte eröffneten sich nicht, allerdings die Erkenntnis, daß Limonade das bessere Getränk sei.
Der Nikotinselbstversuch endete ungleich dramatischer. Unser weiterer Weg führte an einem Büdchen vorbei. Trinkhalle nannte man die Kioske und damit war deren Funktion ausreichend erklärt. Aber man konnte dort auch für fünf Pfennige eine lose Zigarette kaufen. Kaum hatten wir sie angesteckt, erschreckte uns ein tiefer Baß hinter uns. „Ich kenne Deinen Vater“, brummte eine imposante Erscheinung in Polizeiuniform mit drohend erhobenem Zeigefinger. Und tatsächlich verpetzte er mich. Vaters Therapie war perfide. Mit hintersinnigem Lächeln kramte er eine seiner ältesten Pfeifen hervor, stopfte das mit Perlmutt-Imitat eingelegte Teil, das natürlich keinen Filter besaß, zündete das stinkende Kraut an und schob mir das durchgekaute Mundstück zwischen die Lippen. „Wahren Nikotingenuß erlangen nur die Pfeifenraucher“, sagte er. Den Rest des Tages verbrachte ich in der Nähe der Toilette.
 
Ich könnte noch mehr von dem erzählen, was mir aus dem Jahr 1962 in Erinnerung blieb, dem Jahr, in dem ich fünfzehn war. Es reicht nun aber. Die Vergangenheit sollte auch nicht überstrapaziert werden. Was bleibt nach diesem kleinen Gedankenausflug? Jedenfalls die Erkenntnis: Nie mehr fünfzehn. Die Gegenwart bietet Leben genug.
 
 
© 2015 Jürgen Kasten