Verpaßte Gelegenheiten

von Benjamino Gigli bis Annemarie Bostroem

von Joachim Klinger

Umschlagillustration: Kurt Szafranski
Verpaßte Gelegenheiten
 
Am 12. September 2015 erfuhr ich aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, daß die Lyrikerin und Bühnenautorin Annemarie Bostroem am 09.09. im Alter von 93 Jahren in Berlin verstorben ist.
 
Sie kennen Frau Bostroem nicht? Ich kenne sie auch nicht. Mein Interesse an ihr wurde aber dadurch geweckt, daß die Meldung mit dem Hinweis ergänzt wurde, sie sei mit Friedrich Eisenlohr verheiratet gewesen. Ich erinnerte mich sofort: Friedrich Eisenlohr (1889–1954), Ludwig Rubiner (1881–1920) und Livingstone Hahn (1889–1961) waren die Verfasser der „Kriminalsonette”, die 1913 noch vor dem Ersten Weltkrieg erschienen. Ein bemerkenswertes Werk, das erfundene Kriminalfälle im Gedicht knapp und witzig präsentierte. Welche Anmaßung, die edle Form des Sonetts auf diese Weise zu verwenden, und dann noch für eine Thematik, die doch in der Lyrik nichts zu suchen hatte! Aber die Zeit war wohl reif, und Christian Morgenstern mag dem Unerwarteten mit seinen „Galgenliedern” (1905) und „Palmström” (1910) den Weg bereitet haben.

Ich bekenne, ein Verehrer der „Kriminalsonette” zu sein und habe selbst ein Abenteuer mit „Fred und dem Freund” hinzuerfunden (vgl. Joachim Klinger „Palmströms Taschentuch und Korfs Galoschen”, Grupello Verlag Düsseldorf 2007, „Der Mond an einen Papagei” S. 128):
 
Der Mord an einem Papagei
 
In memoriam Ludwig Rubiner,
Friedrich Eisenlohr, Livingstone Hahn
 
Fred hat, als Oberin dezent verkleidet,
sich in die Residenz des Herrschers eingeschlichen.
Dort tötet er den Papagei, der lautlos leidet,
mit Hilfe einer Spritze und zwei Stichen.
 
Der Schoßhund, in den Korb zurückgewichen,
verstirbt am Herzschlag, als das Messer schneidet.
Fred trägt die beiden, kaum daß sie verblichen,
ins Luxusbad, das er dem Fürsten neidet.
 
Nun schlüpft er rasch als ein geschulter Rächer
mit Giftphiolen in die Schlafgemächer,
und mischt den Wein und fälscht die Schrift.
 
Der Freund steht bei den Wächtern, freundlich segnend
und Fred als Hausprälat am Tor begegnend.
Dann haben beide sich nach Island eingeschifft.
 
 
Ach, wie gern hätte ich hier in Berlin mit Frau Bostroem gesprochen! Zu spät – eine verpaßte Gelegenheit! Warum nimmt man nicht mit berühmten Zeitgenossen, die einen interessieren, spontan Kontakt auf?
 
Als ich 1956 Rom erwanderte, entdeckte ich im schönen Garten einer Villa in einem bequemen Sessel sitzend und lesend Beniamino Gigli. Der große Tenor! Wie hatte er mich in dem Tonfilm „Lache Bajazzo” gerührt! Ich hätte winken, rufen können. Vielleicht wäre er an den Zaun gekommen, und ich hätte in meinem Volkshochschul-Italienisch meine Bewunderung zum Ausdruck bringen können. Vielleicht hätte ich sogar ein Autogramm bekommen. Aber ich traute mich nicht …
Einige Monate später war ich in Wien, fand ein bezahlbares Kämmerchen und verdankte der redseligen Wirtin die Information, daß man Hans Moser ins Spital gebracht habe. Der große Volksschauspieler ernsthaft krank! Ich beschloß, diesem beliebten und geliebten Mimen, der mich in vielen Lustspiel-Filmen erfreut hatte, einen Blumenstrauß zu überreichen. Keinen üppigen, den konnte ich mir nicht leisten, aber einen kleinen, bescheidenen. Wo Hans Moser untergebracht war, ließ sich unschwer in Erfahrung bringen. Aber – er teilte sein Krankenzimmer mit 5 anderen Patienten! Das erzählten mir Menschen, die über Insider-Informationen verfügten. Angeblich war Moser mit dem Komplex drohender Altersarmut belastet.
Ich gab auf. Fünf Patienten, die mich anstarren würden, das mochte ich nicht ertragen.
 
Verpaßte Gelegenheiten! Ich denke mit Bedauern daran zurück. Und nun Frau Bostroem! Wie gern hätte ich sie befragt! Drei Männer schreiben ein Buch mit Kriminalsonetten. Das ist ungewöhnlich, das ist höchst merkwürdig. Wußte sie Näheres über den Entstehungsprozeß? Wurde die Idee in einer Skatrunde geboren? Saß man rauchend mit einem Glas Wein in der Hand zusammen, warf sich Sätze und Reime zu und brachte sie schmunzelnd zu Papier? Servierte Frau Bostroem einen starken Mokka und spendete Beifall?
Oder war sie selbst im Spiel? Dichtete sie, während die Männer sich in Kartenspiele vertieften. War es also umgekehrt: drei Herren als Zuhörer, in Bierlaune zum Applaus bereit? Das Angebot: Wir übernehmen, Madame! Eine Frau als Verfasserin dieser Kriminalsonette, das geht gar nicht!
 
Ach, ich werde es nie wissen! Wieder habe ich eine Gelegenheit verpaßt! Oder meinen Sie, Frau Bostroem hätte mir die Urheberschaft verschwiegen?
 
Jedenfalls – jetzt schweigt sie wie das sprichwörtliche Grab …
 

 © 2015 Joachim Klinger