Arnim Juhre †

Ein Nachruf

von Frank Becker

Foto © Frank Becker

Das Salz der Sanftmütigen
 
Arnim Juhre (1925 – 2015)
 
Bei zehn steht: Sextaner,
bei siebzehn: Soldat
bei neunzehn: gefangen,
bei zwanzig: frei.
 
Das schrieb Arnim Juhre in dem Gedicht „Selbstporträt“, das 1962 in seinem Lyrik-Bändchen „die hundeflöte“ (Wolfgang Fietkau Verlag) erschien. 1925 in Berlin geboren und als Gymnasiast eingezogen war er nach kurzer Gefangenschaft in die Trümmer seiner Heimatstadt zurückgekehrt. Der Vater blieb im Krieg vermißt, sechs Geschwister und die Mutter waren durchzubringen. Juhre tat, was damals viele taten - er nahm jede Arbeit an: im Tiefbau, bei der Wiederaufforstung des Grunewalds und bei der legendären Großbäckerei Paech (ein mythischer Raum, in dem aus Wasser und Mehl Brot wurde). Und er schrieb - aus der selben Kriegsgeneration wie Borchert und der junge Böll -: Lyrik und kleine Prosa. Vorbilder waren ihm Max Dauthendey und Max Hermann-Neisse. Sein Erzähl-Band „Des Salz der Sanftmütigen“ ist nach Jahrzehnten in überarbeiteter Neuauflage wieder aufgelegt worden. Als Mitbegründer der „Gruppe der 12“ war Juhre gleich nach dem Krieg gemeinsam mit Ingeborg Drewitz, Jens Rehn, Johannes Hendrich, Joachim Cadenbach und anderen literarisch aktiv geworden. Mit Cadenbach verband ihn bis zu dessen Tod 1992 eine tiefe Freundschaft.
 
Die Hinwendung zum Journalismus brachte ihn 1947 zum „Drahtfunk im amerikanischen Sektor“ (Vorläufer des RIAS), später zum Funk in Ost- und West-Berlin. Nach dem Rundfunk kamen die Angebote von Zeitungen und Zeitschriften, so veröffentlichte Arnim Juhre u.a. im „Horizont“ bei Günther Birkenfeld und viele Jahre in „Westermanns Monatshefte“. Dann kam der Evangelische Rundfunkdienst Berlin, für den er ab 1962 bei RIAS und SFB Programm machte.
Früh auf den nicaraguanischen Dichter Ernesto Cardenal aufmerksam geworden, empfahl Juhre diesen dem Wuppertaler Jugenddienst-Verlag, damals unter Leitung des späteren Bundespräsidenten Johannes Rau. Man weiß heute um die Wichtigkeit dieser Entdeckung und den Erfolg des nachmaligen Kultusministers von Nicaragua. Als Rau die Verlagsleitung abgab, verpflichtete sein Nachfolger Hermann Schulz Juhre als Verlagslektor der vereinigten Verlage Jugenddienst und Peter Hammer. Das war 1969. So kam Arnim Jahre unter die Wuppertaler. Stadt und Menschen bald humorvoll und warm verbunden, schrieb er 1971 dieses Gedicht:
 
Wuppertal
 
Meinen Sie Barmen, zum Beispiel
sei eine heitere Stadt,
wo man die Botschaft des Engels
immer im Sinne hat?
 
Meinen Sie etwa, die Wupper
flösse die Berge hinauf?
Sprüche von Zwingli bis Luther
staun im Gedächtnis sich auf.
 
Meinen Sie etwa, der Else,
Elberfelds schwarzem Schwan,
hingen verzückt und ergeben
Schwärme von Liebhabern an?
 
Bahnhöfe, Oper, Fabriken,
Kaufhof und Heiliger Berg!
Wer schenkt den spröden Propheten
Ohren- und Augenmerk?
 
Ach, und beschwerlich des Fahren!
Tröstet die Schwebebahn?
Weder in Wochen noch Jahren
kommt sie in Düsseldorf an.
 
Im selben Jahr zeichnete Arnim Juhre als Herausgeber der Anthologie „Wir Kinder von Marx und Coca-Cola – Gedichte der Nachgeborenen. Texte der Aurore der Jahrgänge 1945-1955“. Wer es in diese maßgebliche Anthologie geschafft hatte, war „drin“.
Bei Jugenddienst / Peter Hammer blieb er bis Ende 1975, war Initiator des „Almanach für Literatur und Theologie”, dessen Mitherausgeber Dorothee Sölle, Kurt Marti und Wolfgang Fietkau wurden. Ende `75 kündigte der Verlag aus Liquiditätsgründen die Zusammenarbeit auf. Neue Aufgaben als Redakteur und Lektor führten Juhre an die Saar und die Elbe. In Hamburg war er von 1982 bis zum Erreichen des Pensionsalters 1990 Literaturredakteur beim „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt“, danach noch ständiger Kulturkorrespondent, gleichzeitig publizierte er eigene weltliche und geistliche Lyrik.
 
Danach ist er wieder ins Tal der Wupper zurückgekehrt. Ab Mitte 1997 lebte Arnim Juhre mit Ehefrau Herta in Wíchlinghausen, fröhlich, freundlich und schaffensfroh wie je. Als freier Schriftsteller und Mitglied / Funktionsträger in P.E.N., VS und „Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Theater“ war er aktiv, veröffentlichte bei verschiedenen Verlagen und schuf im Auftrag des Kuratoriums der Stiftung „Bibel und Kultur“ gemeinsam mit dem Kirchenmusiker Lothar Graap die vielbeachtete und später oft aufgeführte Orgelkantate „Stimmen zum Reichstagsbrand“. „Zur Ruhe setzen“ stand nie zur Debatte, die Zukunft blieb offen, Kaffeesatz-Lesen und Kartenschlagen wurden abgelehnt. Die Menschenliebe, die sich in seinem Werk dokumentiert, ein inwendiger Spieltrieb und die große Liebe zur Sprache gaben Arnim Juhre auch nach dem Tod seiner Frau Herta im Jahr 2011 Idee und Kraft zu vielem. Er gehörte zu den Sanftmütigen, die nie Aufhebes um sich selbst machten.
 
Am 28. September 2015 starb Arnim Juhre kurz vor Vollendung seines 90. Lebensjahres in seiner Wahlheimat Wuppertal.
 
Färben oder bleichen?
 
Allerhand Glück ist hier vonnöten,
das Leben im Tal zu überbrücken.
Wer hält das aus?
 
Der Fluß kann keiner Schiffahrt dienen
Die Wupper kommt von Süden her,
läuft nach Westen, dreht wieder ab.
 
Der Hang zu Höherem
bleibt Talbewohnern eingefleischt.
Was wird daraus?
 
Allerhand Glück war immer vonnöten,
glaubensstarke Jenseitsfäden
den Produkten beizuweben.
 
Sollen wir's färben? Oder bleichen?
 
 
Arnim Juhre