Märchenträume – Zauberwelten

Betrachtungen zu Buchillustrationen

von Joachim Klinger

Märchenträume – Zauberwelten
 
 
I
 
Schön, daß es das Bilderbuchmuseum Burg Wissem der Stadt Troisdorf gibt! Wer einmal dort war, bewahrt einen Schatz wunderbarer Erinnerungen. Die Sammlungsbestände, deren Fundament von Wilhelm Alsleben stammt, sind seit 1982 ständig erweitert worden, etwa durch die Kinder- und Jugendbuchsammlung von Theodor Brüggemann und die Rotkäppchen-Bücher des Schweizer Ehepaares Elisabeth und Richard Waldmann.
Daß sich das Kinderbuch-Museum nicht auf die Präsentation von Texten und Bildern beschränkt, sondern eine unerhörte Lebendigkeit mit Veranstaltungen und Workshops entfaltet, soll nur erwähnt werden. Hervorzuheben ist aber, daß es seit 2005 etwas ganz Besonderes gibt, das man als Glücksfall für uns alle bezeichnen mag: auf Anregung der Illustratorin Rotraut Susanne Berner wurde eine „Stiftung Illustration“ gegründet. Sie ist angegliedert an das Museum, sozusagen eine kleine, muntere Schwester.
 
Das Ziel ist, das Andenken an Illustratoren aus dem Bereich des Kinderbuchs zu pflegen. Das geschieht einmal durch den Erwerb und die

© 1957 Verlag Braun & Schneider
Betreuung wichtiger Werke der Illustrationskunst, zum anderen durch die Herausgabe eines Lexikons der Illustration (LDI).
Dieses Lexikon ist als Loseblatt-Sammlung konzipiert, ein Werk also, das durch Nachlieferungen ständig ergänzt wird.
Über 2000 Originalillustrationen besitzt die Stiftung bereits, darunter Bilder von Jutta Bauer und Beatrice Braun-Fock, Nikolaus Heidelbach und Reiner Zimnik.
Was das Lexikon angeht, so gibt es bereits mehr als 70 ausführliche Darstellungen über Illustratorinnen und Illustratoren. Auffällig ist die Mischung von berühmten, verstorbenen Künstlern und solchen, die uns aktuell erfreuen und von denen wir noch manches erwarten dürfen. Von den großen Verstorbenen seien genannt: Franziska Bilek und Jürgen Spohn, Friedrich Karl Waechter und Alfred Kubin. Unter den unermüdlich Aktiven sind Quint Buchholz und Wolf Erlbruch, Lisbeth Zwerger und Klaus Ensikat.
Dominante Gestalten der Illustrationskunst wie Ernst Kreidolf, Fritz Baumgarten und Ida Bohatta bleiben ausgespart, wohl weil Biographien zu ihnen vorliegen.
Es ist klug, alt und jung zu mischen. So wird das Angebot breiter gestreut, und es werden mehr Interessenten gewonnen.
 
 
 
II
 
Ohne den weiteren Vorhaben der Stiftung Illustration vorgreifen zu wollen, möchte ich an vier Illustratorinnen erinnern. Dies umso mehr, als sie angesichts der Fülle von Illustratoren und Illustratorinnen übersehen werden könnten.

© 1968 Blanvalet Verlag
 
Da ist zunächst Bele Bachem, geboren 1916 in Düsseldorf, verstorben 2005 in München. In der unmittelbaren Nachkriegszeit entzückten mich ihre scheinbar spielerisch hingeworfenen Zeichnungen. Sie waren graziös und hatten eine französische Leichtigkeit, wie sie mir später bei den Franzosen Raymond Paynet und Jean Effel begegnete.
 
Es paßte zu ihr, daß sie sich zum Theater hingezogen fühlte und Bühnenbilder entwarf. Daß sie für die Firma Rosenthal Porzellan mit zierlichen Figuren und Szenen versah. Daß sie auch für den Film arbeitete (z.B. Vorspann zum Film „Das Wirtshaus im Spessart“). Kurt Flemig bescheinigt ihr in seinem Karikaturisten-Lexikon (K.G. Saur, München 1993) „heitere Dekadenz“ und „aparte Anmut“.
In Heft 2 der Zeitschrift „Das Kunstwerk“, Jahrgang 1946, von Woldemar Klein (Baden-Baden) unmittelbar nach Kriegsende 1945 ins Leben gerufen, werden Bilder aus einem Zyklus gezeigt, der in lockerer Folge „Beruftstätigkeiten“ nebeneinander stellt. Da gibt es den „Schuster“, der zufrieden auf ein zierliches Mädchen mit hübschen Stiefelchen blickt, den Bauern und den Bürgermeister, aber auch – charakteristisch für den schelmischen Blick der Künstlerin und ihre Zuneigung zum Zirkus und Theater – die Musikerfamilie und die Löwenbändigerin. Die von ihr illustrierten ca. 50 Bücher legen Zeugnis ab von reicher Phantasie und Gestaltungskraft.
 
Eine weitere Künstlerin nenne ich: Hanna Nagel, geboren 1907 in Heidelberg und dort 1975 verstorben. Kurt Flemig scheint sie übersehen zu

© 1965 Bruckmann
haben; sein Lexikon erwähnt sie nicht. Eine Würdigung enthält bereits die Monografie von Eberhard Ruhmer aus dem Jahr 1965 (Verlag F. Bruckmann, München).
Hanna Nagel war eine Grafikerin von hohem Rang. Während Bele Bachem in ihrer anmutig-spielerischen Art extrovertiert daher kommt, erscheint uns Hanna Nagel als introvertierte, in sich gekehrte, grüblerische Natur. Sie ist starker und inniger Gefühle fähig, macht aber auch eine Zärtlichkeit spürbar, die ihren Ausdruck in Bildern von wunderbarer Zartheit findet. In vielen Werken geht es um Kindsein und Mutterschaft, um Liebe und Zweisamkeit: Aber auch Verlassenheit und Leid werden thematisiert.
Ihre Zeichenkunst schafft Bilder von großer Dichte; Dunkelheit kontrastiert mit durchsichtiger Helle; die Rundungen eines Gesichts werden liebevoll schraffiert.
Der unvergeßliche Kalender „Der kleine Freudenbringer“ brachte Jahr für Jahr schöne und anrührende Blätter von ihr.
Ich hüte das von ihr illustrierte Buch „Die Sternenprinzessin“, ein Märchen von Vivian Wall, das wohl bald nach dem zweiten Weltkrieg vom Gerhard Stalling Verlag in Oldenburg publiziert wurde (keine Jahreszahl). Der Zauber eines Märchens wird hier grafisch meisterhaft eingefangen.
 
 
 
III
 
Um zwei weitere Künstlerinnen geht es, die manches miteinander verbindet. Zum einen eine tiefe Religiosität, zum anderen eine künstlerische Kraft zur Verzauberung, die sich auf die Betrachter der Bilder überträgt. Es handelt sich um Sulamith Wülfing und Roswitha Bitterlich (die beiden Vornamen könnte man auch Zauberinnen zuordnen).
 
Sulamith Wülfing (1901 bis 1989) hatte ihren Lebensschwerpunkt ganz überwiegend in Wuppertal. Sie entstammt einem religiös gebundenen

© 1959 Sulamith Wülfing Verlag
Elternhaus und soll schon mit vier Jahren begonnen haben, Engel, Feen und Gnome, die ihr „vorschwebten“, zu zeichnen.
 
Nach ihrem Kunststudium gründete sie sehr bald einen eigenen Verlag, der ihren Namen trug. In ihm erschienen Kartenserien und Mappenwerke, Kalender und Bücher.
Das Verzeichnis der Neuerscheinungen 1959/60 führt beispielsweise auf: die Serie „Im Tempel“, 6 Kunstpostkarten „von der Heiligkeit des Baumes“, das Buch „Die kleine Seejungfer“ von Hans Christian Andersen mit Illustrationen von Sulamith Wülfing, eine Christusmappe und den Kalender für 1960 „Zur Freude“. Dies läßt schon in etwa die Bandbreite des künstlerischen Schaffens von Sulamith Wülfing erkennen. Es geht um die Einführung in Texte und ihre Illustrierung, um die Zusammenführung von Märchengestalten, um die Bebilderung von Geschichten, die Glaubensinhalte vermitteln. Fast immer begegnen wir „anderen Welten“, die aber in unser Leben hineinwirken. Verschrumpelte Wurzelweiber bewundern ein kleines Kind, ein zartes Mädchen fegt Schnee, umgeben von Gnomen mit Zipfelmützen, ein schönes Paar, in sich und seine Liebe versunken, ruht am Wegrand.
 
Das Schöne und Reine steht neben dem Häßlichen und Garstigen. Besonders gut gelingen der Künstlerin grazile Geschöpfe, sanfte Engel mit großen Augen, junge Frauen, die mit ihren schmalen Händen Blumen binden, ängstliche Tiere berühren oder streicheln. Persönlich mag ich am meisten die groteske Mischung von anmutigen Gestalten und kriechendem Getier, von gefährlichen Fabelwesen, bärtigen Zwergen und frechen Kobolden. Ein besonders hübsches Bändchen versammelt sie alle, es heißt „Neckisch, gut und böse“ (Verlag V.O.C. – Angel Books, Amsterdam 1980) und ist eine Rarität. Ich hätte mir gewünscht, Sulamith Wülfing wäre beauftragt worden, den „Hobbit“ von J.R.R. Tolkien zu illustrieren, vielleicht sogar seinen „Herrn der Ringe“ …
Die „anderen Welten“, die uns im Werk von Sulamith Wülfing begegnen, bergen das Geheimnis des Fremdartigen, des Erstaunlichen und lassen uns am „Wunder“ teilhaben, mag es sich im Bereich des Märchenhaften ereignen oder jenseitige Regionen des Heiligen berühren. Soweit ich sehe, hat Sulamith Wülfing beides immer zu vereinbaren gewußt. Ihr umfangreiches Oeuvre belegt das bis ins Alter.
 
Eine andere Entwicklung hat Roswitha Bitterlich genommen. Sie ist Österreicherin und wurde 1920 in Bregenz geboren.

© Verlag Felizian Rauch
Wie Sulamith Wülfing erfuhr sie in ihrem Elternhaus eine starke religiöse Prägung; ihre Mutter Gabriele wurde später Gründerin des „Opus Angelorum“, ihr Bruder Hansjörg wurde zum Priester geweiht.
Schon in frühester Kindheit begann Roswitha Bitterlich zu zeichnen, auch um den jüngeren Geschwistern Freude zu bereiten. Gestaltungskraft und Umfang ihres künstlerischen Schaffens waren so außerordentlich, daß sie bald als „Wunderkind“ gefeiert wurde und bereits in den Dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts Ausstellungen ihrer Arbeiten in Wien, Prag, Amsterdam und Kopenhagen erleben durfte.
Ihr rühriger Vater Hanns Maria Bitterlich gab 1937 im Innsbrucker Selbstverlag einen „Katalog Roswitha Bitterlich“ heraus, der das Gesamtwerk der jugendlichen Künstlerin akribisch auflistete: 420 Eintragungen!
Der Verlag Felizian Rauch in Innsbruck und Leipzig publizierte 1936 den eindrucksvollen Großband „Roswitha Bitterlich - Schwarz-Weiß-Kunst“ mit 74 Abbildungen (Text in deutscher, englischer und französischer Sprache!). Die darin enthaltenen grafischen Arbeiten reichen vom Märchenhaft-Grotesken bis zum Religiös-Sakralen (z.B „die Opferung“), von Skizzen alltäglichen Geschehens bis hin zu architektonischen Entwürfen. Man spürt in den Bildern Ernst und Erschütterung, aber auch Humor und freundliche Zuwendung.
 
Für meine Generation (Kinder der Dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts) war die Begegnung mit Roswitha Bitterlich ein großes, beglückendes Erlebnis. Dieses vollzog sich im emsigen Sammeln der kleinen farbigen Bilder, die den Packungen von Haferflocken der Firma Kölln / Elmshorn beilagen. Wir Kinder aßen mehr Haferflocken, um an die zauberhaften Bildchen zu gelangen. Wir tauschten in der Schule diejenigen, die wir doppelt oder dreifach vorgefunden hatten. Wir schrieben an die Firma Kölln, um noch fehlende Bilder zu erhalten, und wir bestellten die Sammelalben. „Mit Roswitha ins Märchenland“, so hieß ein Sammelband, und das war unsere Devise.
Worin lag der besondere Reiz dieser Bilder, was hob sie heraus aus den vielen Serien der Sammelbilder, die z.B. Zigaretten-Packungen oder Liebigs Fleisch-Extrakt beilagen?
Roswitha Bitterlich „ergänzte“ nicht unsere Welt um Märchengestalten, sie nahm uns an die Hand und führte uns in ihr eigenes geheimnisvolles Reich, in dem Wichtel neben drolligen Pilzen saßen, sich vor dem Krampus und anderen gefährlichen Gestalten in Sicherheit brachten oder den armen, alten und kranken Zwergenkönig pflegten.
Das Reich der Roswitha Bitterlich war eine wunderbare Einheit von Geborgenheit und Vertrauen; da lebten Elfen mit Tieren und Gnomen in Harmonie, nie ernsthaft bedroht, aber manchmal doch von finsteren Erscheinungen gestört. Erwachsene kamen nicht vor in dieser Welt der kleinen Tiere, der Wichtel und Kobolde. Und schließlich: alles dies hatte ein Kind, ein Kind wie wir, gemacht!
 
Da konnten die vielen Bilderbücher nicht mit. Fritz Baumgarten war beliebt, aber er zeigte uns, wie in der bekannten Natur plötzlich Wichtel aus Schlupflöchern auftauchten. Sonst wurde alles so dargestellt, wie wir es kannten. Ida Bohatta kam Roswitha Bitterlich wohl nahe mit ihren kleinformatigen Büchern. Mäusegeschichten, Bären-Erlebnisse, Osterhasen-Ausflüge usw. Aber „unsere“ Roswitha blieb unerreicht.
Erst der schreckliche 2. Weltkrieg machte dem ein Ende. Danach waren wir keine Kinder mehr. Roswitha Bitterlich wanderte nach Brasilien aus. Sie scheint sich ganz auf religiöse Motive konzentriert zu haben. Auch das Innere von Kirchen in Brasilien soll sie ausgestaltet haben.
 
Wir, die Sammler ihrer Bildchen, werden sie nie vergessen!
 

© 2015 Joachim Klinger