Schweigen läuft nicht weg.

Zum Tod von Christof Stählin

von Erwin Grosche

Christof Stählin - Foto © Wolfgang Schmidt / Quelle: Wikipedia

Schweigen läuft nicht weg.
Zum Tod von Christof Stählin
 
Morgenstund hat Gold im Mund“, gestand mir einmal Christof Stählin. Das scheint seitdem so zu sein. Meine Gedanken am Morgen sind immer wundervoll und ich denke oft schon vor Sonnenaufgang an meinen klugen Freund. Eine Ausnahme der Regel ist vielleicht der heutige Morgen gewesen, wo ich die Mail eines Freundes öffnete, der mir unter dem Betreff „Traurige Nachricht“ die Nachricht überbrachte, daß Christof Stählin gestorben ist. Das kann doch eigentlich nicht sein. Wie kann denn dieser Künstler, der nie so richtig hier war, trotzdem ganz fort sein? Er könnte es erklären. Seine LP „DAS Einhorn“ (1977) war immer eine von den 10 LPs, die ich auf eine einsame Insel mitgenommen hätte. Die Liebe meines Lebens hatte alle Stählin-Platten gehortet, und es ist beruhigend zu wissen, daß man mit jemanden das Leben teilen will, der alles, was wichtig ist von diesem Dichter erfahren hat. Ich traf Christof Stählin mal bei einem Auftritt im Amalthea Theater Paderborn. Wir sprachen den ganzen Abend über, ich weiß nicht was. Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich überhaupt was gesagt habe. Vielleicht lauschte ich nur seinen schönen Sätzen, die alle klug wirkten, auch wenn er nur nach dem Brot fragte. Später ließen wir die Gruppe erstaunt zurück und er lud mich zu sich ins IBIS Hotel ein. Wir saßen dort in seinem Zimmer auf sonderbar bezogenen Stühlen und tranken aus dem kleinen Hotelkühlschrank nichtsnutzig schmeckende Getränke ...und schwiegen. Gibt es etwas Wichtigeres als das Schweigen zweier erwachsener Männer, die sich viel zu sagen haben? Ich hätte ihm immer den Vortritt gelassen. Beim Reiten, beim Singen und in der Applausordnung. Er ist mein Held und meine Hoffnung. Es sollte gerade in Paderborner Hotels üblich sein, daß Dichter ein anderes Zimmer beanspruchen können. Sie sollten im Turm wohnen und rund um die Uhr jemanden haben, der ihnen beim Träumen zuhört. Später habe ich ihm nochmal geschrieben, daß mir seine neue CD „Aus freien Stücken“ (2011) so gut gefallen würde. Daß es eigentlich nicht möglich ist, eine LP wie „Das Einhorn“ zu übertreffen. Selten gelingen einem Menschen zwei Meisterwerke im Leben. Er lud mich dann zu seinem Geburtstag ein. Schweigen macht mehr Spaß, wenn man sich dabei in die Augen schauen kann. Heute hörte ich wieder sein „Reiselied“ und nun bin ich mir sicher, dass Christof einfach wieder unterwegs ist. Wir werden uns wieder treffen. Schweigen läuft nicht weg.
 
Das Reiselied
 
Ich bringe mich zu Wege
Ihr Straßen, Brücken, Stege
Euch rück' ich ins Gefilde
Ihr Förste, Schluchten, wilde
Gewitterwolkentürme
Ihr Lüfte, Winde Stürme
Euch will ich mich beweisen
Seht her, ich bin auf Reisen –
Ich muss auf Reisen sein!
 
Und himmelwärts ich treibe
Mich manchem Berg zuleibe
Und jenseits rasend falle
Als flöge ich zu Tale
Wie Adler Lüfte spalten
Und ihrer Freiheit walten
So spott' ich den Geleisen
Das macht: ich bin auf Reisen –
Ich muss auf Reisen sein!
 
Der Sturm, das ist mein Mantel
Wie Meereswog' mein Wandel
Doch kennt er keine Schranken
Weil ich in Gedanken
Sonn' und Mond besitze
Die lass' ich auf der Spitze
Der Zeigefinger kreisen
Das macht: ich bin auf Reisen –
Ich muss auf Reisen sein!
 
Es treiben in der Runde
Meines Geistes Hunde
Meiner Glieder Herde
Schräg hin über die Erde
Ich finde meine Nahrung
In keiner Aufbewahrung
Mein Dasein will sich speisen
Vom Wandern, Ziehen, Reisen –
Ich muss auf Reisen sein!
 
Wie aus dem Sumpf die Blasen
Steigen aus dem Rasen
Vor mir Totengrüfte
In nächtliche Gelüfte
Und blüh'nde Wirbel schaukeln
Und Irrlichter vergaukeln
Mir meinen Weg zu weisen
Dorthin geh' ich auf Reisen –
Ich muss auf Reisen sein!
 
Wer könnt' die Freiheit zwingen
Sie in den Kerker bringen?
Ich dreh' die Faust und sprenge
Gefängnismauernenge
Und jubelnd um die Weite
Ich meine Arme breite
Sie an mein Herz zu reißen
Zu ihr geh' ich auf Reisen –
Ich muss auf Reisen sein!
 
Der Pfaffen Prunksoutanen
War'n über unsern Ahnen
Lasst uns're Waffen schlitzen
Ihre gespalt'nen Mützen
Der Schwerterglanz erblitze
Auf die Tyrannensitze
Ihr Tod soll Freiheit heißen –
Auf, Freiheit, geh auf Reisen –
Du musst auf Reisen sein!
 
Der Freiheit Goldfanfaren
Wer dürfte sie verwahren?
Lasst uns're Lippen netzten
An diese Kelche setzten
Ihr Jubelstrahl soll glänzen
An allen Erdteilgrenzen
Und ihre tausend Weisen
Soll'n um den Erdball kreisen
Lasst mich, lasst mich
Lasst mich, lasst mich
Lasst mich auf Reisen sein!
 
 
Christof Stählin
(1977)



Christof Stählin wurde am 18. Juni 1942 in Rothenburg ob der Tauber geboren. Er starb am 9. September 2015 in Hechingen.