Der Spott der kleinen Dinge

Bodenfrost

von Lars von der Gönna

© Heiko Sakurai
Bodenfrost
 
Neulich hat mir jemand gesagt, es gäbe Bodenfrost. Wir schrieben den 3. Juni, und ich dachte: Bodenfrost im Juni, das ist es jetzt, das ist wieder ein Zeichen, das ist die Flammenschrift an der Wand, das ist das Ende, die Apokalypse. Am gleichen Tag ist meine Bürolampe durchgeknallt. Ich dachte: Zwei Zeichen, jetzt wird es ernst.
     Im Alter lernt man, daß Bodenfrost im Juni nicht einfach zwei Grad minus in Letmathe sind. Bodenfrost im Juni ist ein Zeichen. Es ist ganz natürlich, daß wir wegen der vielen Konservierungsstoffe im Essen degeneriert sind und Zeichen nicht mehr erkennen. Das Schicksal aber brüllt: Bodenfrost! Kehr um! Laß alle Hoffnung fahren und falte aus dem Europawahlzettel einen Hut gegen den Atomblitz von Herrn Kim, dem toupierten Irren mit der Flugangst! Wir aber sitzen lustig daheim und bestellen bei QVC figurformende Wäsche für eine gute Silhouette.
     Wir haben die Zeichen verloren. Vor 200 Jahren saß ein Rabe auf deinem Bett, und du wußtest, ein Gespräch mit dem Bestatter deines Vertrauens würde nicht schaden. Früher war es der Rabe, heute ist es die Telekom; Zeichen ändern sich. Diese Woche haben sie dreimal bei mir angerufen. Zweimal wegen meiner Treue (ich sollte was Neues kaufen), einmal in gebrochenem Deutsch. Ich dachte: Bodenfrost plus Telekom-Akquise auf Esperanto, das ist der moderne Sensenmann.
     Eine Großtante von mir war fabelhaft im Lesen von Zeichen, aber bei komplexen Phänomenen (etwa Blattläusen im Handschuhfach) ging sie zur ortsansässigen Wahrsagerin. Einmal hat die Wahrsagerin ihr gesagt, mit der Welt ginge es zu Ende, sehr bald. Eine Woche später sah die Tante die Wahrsagerin in der Volksbank ein Jahreslos der Fernsehlotterie abgeben. Sie war am Ende.
     Wegen der Bürolampe habe ich an meinen EU-Parlamentarier geschrieben. Es ist als Zeichen gedacht. Er wird es wegwerfen. In Flammenschrift war ich immer schlecht.
 


© Lars von der Gönna - Aus dem Buch „Der Spott der kleinen Dinge“
mit freundlicher Erlaubnis des Verlags Henselowsky Boschmann und der WAZ.