Lazy Sunday Afternoon

Volker Hage – „Die freie Liebe“

von Frank Becker

Lazy Sunday Afternoon
 
„Was, wenn die eigene Biographie nur ein Entwurf wäre
und danach erst die Reinschrift käme?“ (S. 8)
 
Volker Hage hat eine Zeit in den Mittelpunkt seines kostbaren kleinen Romans „Die freie Liebe“ gerückt, die gerade mal gut 40 Jahre her ist und doch eine Epoche zu sein scheint, von der uns heute trotz ihrer gewaltigen Auswirkungen bereits Äonen trennen: Ingmar Bergmann, John Updike, Apollo-Missionen, Rainer Werner Fassbinder, Vietnamkrieg, Baader-Meinhof-Bande, Softgirls, Olympia-Press, Uher, Bang & Olufsen, Andy Warhol, Super 8, „Jules und Jim“, Dual, „Trash“, Uschi Obermaier, Concorde, twen, Henry Miller, Schwarzer September, Playboy, IBM, „Wenn Katelbach kommt“, TEE, Pink Floyd, McDonald´s, Philip Roth, Led Zeppelin, AFN, „Stille Tage in Clichy“, Chicago, Farbfernsehen, Wohngemeinschaft, The Small Faces, „Lazy Sunday Afternoon“, freie Liebe…
 
Anfang der 70er Jahre kommt der 21-jährige Wolf Wegener aus Lübeck zum Studium nach München, nimmt ein Zimmer in einer WG – und läßt sich nur zu gern in ein erotisches Abenteuer von Dimensionen ziehen, wie sie nur damals, genau damals möglich gewesen sind. Es ist eine Abnabelung von der mütterlichen Über-Fürsorge, zugleich ein Kopfsprung in den inspirierenden Strudel der geistigen Strömungen dieser Zeit des Umbruchs in mancherlei Hinsicht. Neue Wege öffnen sich in Literatur, Filmkultur, Philosophie, die Befreiung von bürgerlichen Zwängen in der unmittelbaren Folge der ´68er Revolution und der Flower-Power-Bewegung, insbesondere den vorgegebenen Bahnen der Sexualität ist das Gebot der Stunde. Die Berliner Kommune 1 hatte den pop-politischen Boden bereitet, das Gefühl der nahezu unbegrenzten Freiheit macht das Atmen für die sich häutende junge Generation freier, die Tage leichter.
„Mit 21 muß das Leben beginnen.
Wie kann es anders sein?“ (S. 14 )

Volker Hage (*1949) gehört zu jener Generation, schreibt sich die Rolle des Wolf Wegener, dessen Aufbruch von der Seele, läßt diesen vom 4. Mai 1971 bis 22. Dezember 1972 (s)ein ehrliches, Seite um Seite umwerfend authentisches Tagebuch führen, in dem jeder, der Anfang der 70er ein Twen war, sich wiederfinden wird, ob es die für eine begrenzte Zeit tatsächlich frei gelebte Sexualität ist, die angesagten Filme, in die man ging, die Bücher, die man las und diskutierte, die nächtelangen Gespräche, die man führte.
Wolf Wegener stürzt sich neben einigen marginalen Affären in die lustvolle, aufwühlende erotische Beziehung mit Lissa, der verwirrend schönen Verlobten seines Mitbewohners Andreas, durch die er unbekannte sexuelle Erfüllung und tiefe Abhängigkeit erfährt. Hage weiß das hinreißend zu erzählen. Aber er zeigt auch die Grenzen dieser Freiheit, die von den Emotionen der nur scheinbar zur wirklich freien Liebe fähigen Lissa bestimmt werden (die ewigen, unveränderlichen des Weibes?). Und er läßt die Qualen der Ungewißheit und die mehr oder minder konsequenten Antworten der ja letztenendes ebenfalls scheinbar befreiten Männer und mitbetroffener Nebenfiguren wie Anna mitleiden. Die Schwächen der Protagonisten: Wolfs Entschlußlosigkeit, Lissas Capricen, Andreas´ stumme Zurückhaltung markieren ihren Weg.
 
Zeitzeugen wird das Herz schneller schlagen – aber auch alle mit dem Unglück der späteren Geburt sollen das Buch lesen, um ihre Eltern, z.T. Großeltern zu begreifen. Erklär das mal einem/einer heute vielleicht 20-jährigen: kein Internet, kein Mobiltelefon oder Smartphon, keine CD oder DVD (MusiCassetten der letzte Schrei), nicht mal Pizza-Taxi, ein eigenes Auto oder Fernseher als „Grundrecht“ für jeden. Kinobesuche, die oft anrüchigen neuen oder wiederbelebten Bücher, Abende im Club, Gespräche, wer brauchte mehr? Schon Mitte//Ende der 70er war der schöne Spuk im wesentlichen wieder vorbei.
Volker Hage schafft es, auf nur 130 Seiten (die versöhnliche Rahmenhandlung ziehen wir ab) ein vollständiges Zeitbild zu skizzieren, es oft nur in Halbsätzen mit Gänsehaut erzeugendem Gefühl der Erinnerung zu füllen und seine zentralen Charaktere Wolf, Lissa und Andreas so präzise zu modellieren, daß sie, allen voran die verwirrende Lissa, greifbar werden. Alles ist wahr, auch, daß Uschi Obermeier unglaublich schön und, „Trash“ ein Scheißfilm war, „Stille Tage in Clichy“ Henry Millers bestes Buch ist und die sinnliche Verfilmung köstlich. Der erste Akai-Videorecorder war tatsächlich ein prima Gerät und Rosy Rosy so berauschend wie Lissa. Wer hätte nicht noch die Stimme des AFN-Sprechers im Ohr, den ersten deutschen „Playboy“ als Dokument der Befreiung von Zensur empfunden - und natürlich haben wir den twen-Fragebogen eingeschickt und wie Wolf mit Verzögerung die vorgeschlagenen Partnerinnen getroffen…

„Das sind gute Bücher, bei denen man in der fremden die eigene Geschichte mitliest“,
schreibt Volker Hage auf Seite 85. Sein Roman „Die freie Liebe“ erfüllt diesen Anspruch, ist genau das, was ein künftiges Kultbuch ausmacht - so ungern ich diesen Begriff auch benutze, hier trifft er den Nagel auf den Kopf. Mit weitem Abstand vor anderen unser Buch des Monats und natürlich mit unserem Prädikat, dem Musenkuß, ausgezeichnet.

Lazy Sunday afternoon
I've got no mind to worry
I close my eyes and drift away-a
(The Small Faces)
Volker Hage – „Die freie Liebe“
Roman
© 2015 Luchterhand Literaturverlag, 160 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-630-87468-5
€ 16,99 [D] | € 17,50 [A] | CHF 22,90

Weitere Informationen: Luchterhand Literaturverlag