Gottfried Keller (1819-1890)

Zum 125. Todestag

von Frank Becker

Gottfried Keller - Karl Stauffer-Bern pinx.
Gottfried Keller
(1819-1890)

Am 15. Juli 1890, vor 125 Jahren starb nach sechsmonatiger Krankheit der Schweizer Nationaldichter Gottfried Keller als Hagestolz in seinem Geburtsort Zürich. Adolf Frey erzählt von seinem letzten Besuch bei Keller am Tag vor dessen Tod: „Des Todes Hand lag auf ihm, über das blasse Gesicht mit den meist geschlossenen Augen war ein unendlicher Friede gebreitet. Er sprach noch von diesem und jenem und flocht auch wohl noch eine kleine Schalkheit ein; aber meistens war er eine Beute der schlummersüchtigen Müdigkeit.“
Jakob Baechtold berichtet vom Leichenbegängnis: „Ein Leichenbegängnis wie das Gottfried Kellers am Vorabend seines einundsiebzigsten Geburtstages hatte Zürich noch nie gesehen. Die Stadt selbst hatte die Bestattungsfeier angeordnet. Hinter dem mit kostbaren Kränzen überdeckten Sarge schritt das ganze Schweizerland. Vertreter des Bundesrates, die gesamte Zürcher Regierung, Abordnungen des Kantons- und des Stadtrates, die Lehrkörper beider Hochschulen, Vertreter sämtlicher größeren Vereine der Stadt und der akademischen Jugend Zürichs und der übrigen Schweiz, mitten in einem Wald umflorter Banner. (…) Unter den Köngen von Chopins Trauermarsch setzte sich der Zug in Bewegung, mitten durch die Massen des Volkes, das lautlos, entblößten Hauptes an den Rändern der Straßen sich drängte.(…)“

Davon, daß der ungemein populäre Lyriker, Romancier und Politiker, der oft unglücklich Liebende in seinen besseren Jahren ein durchaus angenehmes und sinnenfrohes Leben geführt hat, zeugen nicht nur Erzählungen seiner Zeitgenossen und seine eigenen köstlich selbstironischen Briefe. Zwei davon möchten wir Ihnen zur Erinnerung an den Autor von „Kleider machen Leute“, „Der grüne Heinrich“, „Die Leute von Seldwyla“, „Romeo und Julia auf dem Dorfe“, „Martin Salander“ u.a.m. vorlegen.
 
Gottfried Keller an Marie Exner
(Zürich, 16. Dezember 1872):
 
„Höflichen und herzlichen Dank für die zwei Bilder, die mir Herr Dilthey gestern abend gab. Bis zu diesem Augenblick, das heißt seit Monaten,hatte ich in Zucht und Ehre gelebt.
Gestern tranken wir zwei nun folgendes: 
8 Glas Bier2 Schoppen Wein
2 Flaschen Wein2 Gläser Grog
2 Wiener Schnitzel (Dilthey)
1 Blumenkohl (idem)
1 Hasenbraten (ich)2 Brot (beide)
1 Kartoffelsalat (ich)
1 Käs (Dilthey)
1 Butter (idem)
1 Brot (idem)

macht 24 Einheiten, die wir zusammen verschlangen. Als Dilthey meinen
schönen Hasenbraten sah, wollte er auch welchen haben, es war aber keiner
mehr da.  Ich bot ihm den meinigen an gegen Abtretung der Wiener Schnitzel.
Da wurde er mißtrauisch und behielt sie.
Heut´ hab ich etwas Katzenjammer; als ich um neun Uhr aufstand und die Photographien besah, machte ich ein zwinkerndes Gesicht, wie eine alte Eule, die an einem hellen Morgen aufs Meer hinausschaut. (...)
Dilthey ließ ich gestern nachts beim Heimgehen immer drei Schritte voraus marschieren, damit er mir nichts Böses nachsagen könne bezüglich meines Wandels; tut er es dennoch, so glauben Sie es nicht!
Nun wünsche ich Ihnen und Ihren Herrn Brüdern, die ich grüße, dankbarlichst ein glückliches und frohes Weihnachts- und Neujahrswesen und verbleibe Ihr ergebener
G.Keller“

Gottfried Keller an Karl Dilthey
(Zürich, 13. Januar 1873)

„Als ich den Exnerschen für das bewußte Freßkörbchen dankte, hatte ich aus Dummheit geschrieben, ich hätte es sofort ganz ausgefressen. Diese Renommage hat mir heute beiligende Episten eingetragen, aus welchen Sie ersehen, daß Sie nächstens einmal zu mir kommen müssen. Gott sei Dank, ewiglich, daß ich mich wenigstens halb reinwaschen kann. Ich denke mir die Sache so, daß wir uns mittels Einnehmens des kalten Imbisses und etwa zwei Flaschen Weins einen schönen Bierdurst anschaffen und alsdann in den „Gambrinus“ oder so wohin gehen, um denselben zu löschen. An einer späteren Bewirtung von mehreren Köpfen studiere ich auch herum...“

Gottfried Keller (1819-1890), Lyriker, Romancier, Novellist, einer der größten deutscher Sprache
Karl Dilthey (1839-1907) war 1870-1877 Professor für Archäologie an der Universität Zürich.
Marie Exner, verh. von Frisch (1844-1925), lebte damals bei ihrem Bruder Adolf Exner in Zürich
Adolf Frey (1855-1920), Schriftsteller und Literaturhistoriker, Biograph Kellers und C.F. Meyers
Jakob Baechtold (1848-1897), Schweizer Literaturwissenschafter
 
Seinem Geburtsmonat, der auch seine Sterbemonat werden sollte, hat Gottfried Keller dieses Gedicht zugeeignet:
 
Zur Erntezeit
 
1.
 
Das ist die üppige Sommerzeit,
wo alles so schweigend blüht und glüht,
des Juli stolzierende Herrlichkeit
langsam das schimmernde Land durchzieht.
 
Ich hör' ein heimliches Dröhnen gehn
fern in der Gebirge dämmerndem Blau,
die Schnitter so stumm an der Arbeit stehn,
sie schneiden die Sorge auf brennender Au.
 
sie sehnen sich nach Gewitternacht,
nach Sturm und Regen und Donnerschlag,
nach einer wogenden Freiheitsschlacht
und einem entscheidenden Völkertag!

2.
 
Mir ist, ich trag' ein grünes Kleid
von Sammet und die weiche Hand
von einer schweigsam holden Maid
strich' es mit ordnendem Verstand.
 
Wie sie so freundlich sich bemüht,
duld' ich die leichte Unruh' gern,
indes sie mir ins Auge sieht
mit ihres Auges blauem Stern.
 
So deckt der weiche Buchenschlag
gleich einem grünen Sammtgewand,
so weit mein Auge reichen mag,
das hügelübergoßne Land.
 
Und sachte streicht darüber hin
mit linder Hand ein leiser West,
der Himmel hoch mit stillem Glühn
sein blaues Aug' drauf ruhen läßt.
 
Uns beiden ist, dem Land und mir,
so innerlich, von Grund aus, wohl –
doch schau, was geht im Feldweg hier,
den Blick so scheu, die Wange hohl?
 
Ein Heimatloser sputet sich
waldeinwärts durch den grünen Plan –
das Menschenelend krabbelt mich
wie eine schwarze Erdspinn' an!
 

Gottfried Keller