Der doppelte Kirchner – die zwei Seiten der Leinwand

Ausstellung im Kirchner Museum Davos

von Jürgen Koller
„Auch ich muß etwas sparen jetzt...“
 

Ausstellung im Kirchner Museum Davos
 
Das Kirchner Museum Davos gilt als eine der bedeutendsten Ausstellungs- und Forschungsstätten zur Klassischen Moderne. Das ist nicht nur dem wegweisenden Museumsbau geschuldet - 1992 errichtet nach Entwürfen der Zürcher Architekten Anette Gigon und Mike Guyer - sondern im Besonderen dem Sammlungsbestand von 1500 Gemälden, Skulpturen, Zeichnungen, druckgrafischen und textilen Werken sowie 160 Skizzenbüchern und weit über 1000 Fotografien. Im Gegensatz zur Museums- und Sammlungs- Praxis in Deutschland, die auf der Basis kommunaler oder überregionaler Finanzierung basiert, eröffnet die überwiegend private Stiftungs- und Schenkungskultur der Schweiz den dortigen Musentempeln größere finanzielle Spielräume mit weniger Bürokratie, um attraktive und aufwendige Ausstellungsprojekte realisieren zu können. Das könnte sowohl an der kürzlich zu Ende gegangenen Ausstellung „Davoser Bergwelten“ des vergessenen Expressionisten Philipp Bauknecht, als auch an der am 21. Juni diesen Jahres im Kirchner Museum Davos eröffneten Schau „Der doppelte Kirchner – Die zwei Seiten der Leinwand“, die in Kooperation mit der Mannheimer Kunsthalle und dem Ernst Ludwig Kirchner Archiv in Wichtrach/Bern erarbeitet wurde, belegt werden. Erstmalig widmet sich damit ein Kunstmuseum dem Phänomen der Rückseiten- oder Doppelbilder Kirchners als eigenständigen Werkkomplex.

 
Bild 1: Kirchner, Weibl. Akt im Tub (verso), 1911

Bild 1: Kirchner, Fraenzi (recto), 1911
 
Auch ich muß etwas sparen

In einem Brief vom 7. Februar 1919 heißt es bei Ernst Ludwig Kirchner: „Auch ich muß etwas sparen jetzt, denn das Material ist sehr kostspielig geworden. Aber die Leinwand hat Gott sei Dank 2 Seiten.“ Dabei handelt es sich um keine Marotte Kirchners, auch seine Künstlerkollegen der „Brücke“, etwa Otto Mueller, Max Pechstein oder Erich Heckel haben das so gehandhabt, gerade Letzterer hat Rückseiten-Bemalungen öfters angefertigt. Aber extensiv hat das nur Kirchner betrieben. Im Kirchner-Archiv sind derzeit 138 solcher Werke verzeichnet. Bei einem Teil der Rückseiten-Bilder handelt es sich um abgeschlossene und signierte Werke von hoher künstlerischer Qualität. Unübersichtlich für die kunstwissenschaftliche Forschung wird die Tatsache, daß Kirchner in Davos Arbeiten der Dresdner und Berliner Zeit umdrehte, überarbeitete und seinem neuen Stil anpaßte. Es läßt sich jedoch „deutlich unterscheiden zwischen den Vorder- und Rückseiten zu Lebzeiten Kirchners und den Wendemanövern, die nach seinem Ableben erfolgten.“
Die sehr konzentrierte Ausstellung präsentiert 17 doppelseitige Gemälde aus der Zeit von 1909 bis 1937 frei im Raum stehend, also nicht als Tafelbilder an der Wand, wie sie der Künstler ja eigentlich gewollt und gemalt hat. Erst im Herumgehen um die „Objekte“ eröffnet sich für den Betrachter die malerische Struktur und die Gesamt-Ästhetik der doppelseitigen Werke, ermöglicht ihm eine eigene Sichtweise und Würdigung. Durch diese Präsentationsform wird auch seitens der Kuratoren – Inge Herold (Mannheim) und Thorsten Sadowsky (Davos) – auf eine Wertung innerhalb des Ausstellungsraumes verzichtet. „Die so offengelegten Rahmenvarianten geben Hinweise darauf, was als Rückseite wann, von wem und warum auch immer definiert wurde.“ Zugleich geben diese Rahmungen Auskunft über die Geschichte der Bilder, die sich in Beischriften und Aufklebern ausdrückt.
 

Bild 9: Kirchner, Fehmarndüne mit Badenden, 1913

Bild 9: Kirchner, Der Flötenspieler, 1922-23
Für die Aussteller bildeten die nicht-formatkonformen Doppelbilder, d.h. Gemälde, deren Vorderseitenfront nicht dem der Rückseite entspricht, eine besondere Herausforderung. Ein in den Raum stellen dieser Werke als umgehbares „Objekt“ verbot sich, weil dadurch ein nicht-wertendes Ausstellen unmöglich geworden wäre. Diese Gemälde werden an der Wand gezeigt und ein Teil wird bei Ausstellungshalbzeit gedreht, wodurch eine neue, andere Ausstellung entsteht. Es sei noch auf eine interaktive Inszenierung aller bekannten 138 Doppelbilder von Ernst Ludwig Kirchner verwiesen, die zur umfassenden Ausstellung „Der doppelte Kirchner“ gehört.
 
Die Ausstellung Der doppelte Kirchner - Die zwei Seiten der Leinwand
läuft bis zum 8. November 2015 im Kirchner Museum Davos, Ernst-Ludwig-Kirchner-Platz, Promenade 82, CH-7270 Davos Platz.
 
Öffnungszeiten :
Dienstag bis Sonntag, jeweils 11-18 Uhr, Montags geschlossen
Informationen: www.kirchnermuseum.ch
 
Zur Ausstellung ist ein Katalog von Inge Herold, Ulrike Lorenz und Thorsten Sadowsky im Wienand Verlag erschienen:
216 Seiten, gebunden, 312 farbige Abb., 62 s/w Abb., 22,5 x 27cm, deutsch/englisch
32,- sFr / 36,- €