Die Gefahr des Buches

Donna Leon – „Tod zwischen den Zeilen“

von Frank Becker

 

Vor den Gefahren, die in Büchern lauern, haben wir schon gelegentlich gewarnt. Daß sie tödlich sein können, zeigt Donna Leon in ihrem jüngsten venezianischen Kriminalroman, dem 23. Fall für Commissario Guido Brunetti „Tod zwischen den Zeilen“. Aus der altehrwürdigen Biblioteca Merula ist nicht nur eine Vielzahl alter Originale von erheblichem Wert verschwunden, ruchlose Diebe haben aus etlichen anderen unersetzlichen Bänden einzelne Seiten mit wertvollen Stichen, Karten, Illustrationen geschnitten und so die Bücher auf immer ruiniert. Zwar kein Fall für die Mordkommission, auch wenn die Folianten gemeuchelt wurden, doch ein interessanter Fall für den belesenen, bibliophilen Commissario.

Donna Leons neuer Roman ist leise, schon alleine der Atmosphäre der betroffenen Bibliothek und denen, die mit Büchern Umgang pflegen, geschuldet. Er bleibt auch leise, denn Leon hat hier einen ganz neuen Ton angeschlagen, arbeitet mit noch mehr Understatement. Schnell fällt der Verdacht auf einen Dr. Joseph Nickerson, angeblich mit einem Forschungsauftrag der University of Kansas, denn die Aufzeichnungen der Ausleihe lassen erkennen, daß er die meisten der fehlenden und beschädigten Bücher angefordert hatte. Schnell wird aber auch klar, daß nicht nur ein Dieb am Werke war und daß nicht nur hier, sondern auch anderswo in Italien und Westeuropa solche Diebstähle, oft im Auftrag gegen hohe Bezahlung von Profis ausgeführt werden. Die Spur zu Nickerson verläuft im Sande, es gibt ihn schlicht nicht – alles Ausweise und Papiere waren gefälscht. Auch der Ex-Priester Aldo Franchini, ein Stammbesucher der Merula und dort unter dem Spitznamen Tertullian bekannt, weil er stets dessen und die Werke anderer Kirchenväter liest, gerät in den Dunstkreis der Verdächtigen des lukrativen Geschäfts.
Brunetti ermittelt gemeinsam mit Ispettore Vianello wie so oft in höchsten und profanen Kreisen. Donna Leon führt als interessante, reizvolle Figur mit einem gewissen Knistern die Contessa Morosini-Albani ein, eine Mäzenin der Bibliothek und Freundin seiner Schwiegereltern Falier, läßt sie aber marginal und Brunetti reserviert bleiben. Vice Questore Patta, seine Sekretärin Signorina Elettra, Tenente Scarpa und die Polizisten Alvise, Pucetti und Foa kommen diesmal nicht so recht zum Einsatz, Brunettis Familie spielt abgesehen von Ehefrau Paola nur eine geringe Rolle, aber im letzten Drittel des Romans, als es zum Mord an „Tertullian“ kommt, zieht Donna Leon wieder einmal die sympathische und kluge Kollegin Commissario Claudia Griffoni aus dem Hut. Irgendwann wird sie der wohl mal eine größere Rolle zumessen. Das wundervolle Venedig spielt wie immer die Hauptrolle, jeder Gang durch Calle, über Rive und Campi, jede Bootsfahrt des Commissario ist ein wenn auch stiller, so doch hingebungsvoller Lobgesang auf die vielleicht schönste Stadt der Welt.
Wie sich der Fall aufklärt, wer Nickerson tatsächlich ist und welche anfangs (nicht vom aufmerksamen Leser) übersehene Kleinigkeit Brunetti schließlich auf die richtige Spur bringt, ist eine weniger zum Zerreißen spannende als durchaus philosophisch bildende, leicht verdauliche Lektüre für die Ferien.

Donna Leon – „Tod zwischen den Zeilen“
Commissario Brunettis dreiundzwanzigster Fall - Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz
© 2015 Diogenes Verlag, 288 Seiten, Ganzleinen mit Schutzumschlag,
ISBN 978-3-257-06929-7
€ (D) 23.90 / (A) 24.60, sFr 33.90*
 
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