Mahlers Sechste

10. Sinfoniekonzert des Sinfonieorchesters Wuppertal

von Johannes Vesper

Gustav Mahler - Emil Orlik pinx.
Mahlers Sechste

10. Sinfoniekonzert des Sinfonieorchesters Wuppertal
unter Toshiyuki Kamioka
(21. und 22.06.15)
 
von Johannes Vesper
 
Bedeutungsvoll und tragisch geht die 153. Saison des Wuppertaler Sinfonieorchesters mit der 6. Sinfonie von Gustav Mahler (1860-1911) zu Ende. Nach seiner Hochzeit mit Alma Schindler 1902 und direkt nach den „Kindertotenliedern“ 1903 machte sich der Hofoperndirektor Wiens an seine 6. Sinfonie, die die Tragische genannt wird - laut Bruno Walter ein Werk ausgesprochen pessimistischer Gefühlsrichtung. Die Bezeichnung „Tragische“ stammt allerdings nicht von Mahler. Neunzig Minuten lang stürmt, braust und singt das Orchester, spiegelt die zerrissene Psyche des Egozentrikers, über den seine 20 Jahre jüngere Frau Alma schrieb: „Gustav steht so einsam, so entfernt, er hat alles zu tief innen, als daß es im Leben ans Licht könnte. Auch seine Liebe - alles, alles verkümmert…. Mir graut so vor Gustav, daß ich mich fürchte, wenn er nach Hause kommt“. Ein im persönlichen Umgang also intoleranter und schwieriger Lebensgefährte. Bruno Walter schrieb: „Der im Herzen Gütige konnte hart und beißend, heftig und jähzornig, kalt und abweisend sein“. Seine Psyche und persönlichen Schwierigkeiten gehen aus dem Foto im Programmheft nicht hervor. Auf ihm erscheint Mahler allerdings ziemlich lebendig und eher als differenzierter Intellektueller. Eine Neigung zur Depression bestand sicher in späteren Jahren, vielleicht auch familiär bedingt. Einer seiner Brüder beging mit 23 Jahren Selbstmord, und Mahler selbst begab sich 1910 in die Behandlung von Sigmund Freud. Als Schüler wollte er Märtyrer werden, als Dirigent aber produzierte er Wutausbrüche, schreiend und mit den Füßen stampfend.
 
Und so beginnt die 6. Sinfonie: mit stampfendem Rhythmus. Der Satz entwickelt sich unter gewaltigen Temperamentsausbrüchen, die das riesige Orchester (9 Hörner, 6 Trompeten, Baßtuba u.a.) exakt und differenziert mit großer Emotion präsentiert, wobei Fortissimo durchaus unterbrochen wird von zartestem Pianissimo. Ob in einem zweiten Thema Alma Mahler richtig charakterisiert wird – er habe versucht sie in diesem Thema festzuhalten, wird G. Mahler zitiert - darüber kann naturgemäß nur spekuliert werden. Nach dem 1. Satz erklang im Gegensatz zum Programm, aber wohl nach Mahlers eigenem Wunsche, das lyrische Andante moderato mit innig singenden Holzbläsern und in der Höhe im Pianissimo ersterbenden Violinen (welch merkwürdige musikalische Momente), mit sonoren Hörnern und Posaunen sowie blitzsauberen Trompeten: österreichischer, musikalischer Dialekt mit Kuhglocken, sehnsuchtsvolle Naturszenen, die der Komponist als Mensch gesucht haben mag.
Es folgt das wuchtige Scherzo, marschartig an Bruckners Sinfonien erinnernd, mit schwierigster Agogik, stellenweise Wechsel der Tempi von Takt zu Takt und mit differenzierteste Dynamik: welche Herausforderung. Hier ist das Orchester maximal gefordert, sowohl im Hinblick auf die Technik als auch auf die Aufmerksamkeit, Wachheit und Bereitschaft, Maestro Kamiokas musikalische Vorstellungen und Ideen, stets elegant und präzise dem Publikum und Orchester vermittelt, umzusetzen. Endlich der letzte Satz: nach einem an Filmmusik erinnernden Eingangsakkord, nach choralartigem Blechbläsersatz, folgt 30-minütiger Kampf, in dem das Schicksal buchstäblich zuschlägt, hier in Form eines riesigen Holzhammers auf hölzernen Amboß. Bei diesem Schlag muß das Schlimmste befürchtet werden. In ihrer Düsternis und Zerrissenheit beginnt mit der 6. Sinfonie (Uraufführung am 27.03.1906 im Essener Saalbau) das an Schrecken und Katastrophen so reiche 20. Jahrhundert. Das Orchester mit seinen Solisten, mit dem großen, bedeutenden Schlagzeug und den perlenden Harfen bewältigte die riesige Sinfonie souverän, bewegte, ja begeisterte das Publikum, welches mit stehenden Ovationen nach dem ersterbenden Schluß der Sinfonie dankte. „Das Werk endet in Hoffnungslosigkeit und Seelennacht“, schrieb Bruno Walter. Ein großer Konzertabend.