Emotional, engagiert, bedrückend

Veronika Wolf – „Schweigende Stadt“

von Jürgen Kasten

Schweigende Stadt
 
Donnerstag, 08. Dezember 1988, 14.00 Uhr. Faber sitzt an seinem Schreibtisch im Polizeipräsidium Wuppertal und schaut missmutig in den nebeligen Nachmittag hinaus. Wieder wird es nichts mit dem Fußballspiel im Park, das er seinem Sohn versprochen hatte.
Viele uneingelöste Versprechen schießen ihm durch den Kopf. Ein schriller Ton unterbricht seine Gedanken. Was war das? Türen werden aufgerissen, aufgeregtes Rufen auf dem Gang. „Alarm!“, ruft jemand, „alle sofort in den Saal 300.“ Dort herrscht Unruhe. Was ist los? Die letzte Vollübung liegt doch noch nicht lange zurück. Gleich ist Feierabend.
Der Leiter der Kriminalpolizei kommt herein, räuspert sich, fordert Stille. „Flugzeugabsturz in Remscheid“, sagt er, „alle Beamten begeben sich unverzüglich in die ihnen zugewiesenen Einsatzabschnitte wie im Katastrophenplan festgelegt.“
 
Faber gehört zum Identifizierungsteam. Er sammelt seine Mitarbeiter ein und macht sich auf den Weg. Die kurze Fahrt nach Remscheid dauert lange. Alle Zufahrtsstraßen sind verstopft. Im Zickzack, über Bürgersteige und Radwege hinweg versuchen sie vorwärts zu kommen, begleitet vom Schimpfen und Hupen der im Stau Stehenden.
Im Polizeigebäude am Quimperplatz herrscht ein Gewimmel wie in einem Ameisenhaufen. Niemand weiß wohin. Hektisch werden Büroräume umgeräumt und mit Beamten gefüllt. Was tun? Berater vom LKA müssen her. Die örtliche Polizei scheint überfordert. Eintreffende Meldungen überschlagen sich. Ein amerikanischer Kampfjet ist abgestürzt. Hat einen ganzen Straßenzug in Schutt und Asche gelegt. Es soll viele Tote gegeben haben. Leichenteile sollen in Bäumen hängen. Die Amerikaner haben das ganze Viertel um die Stockder Straße herum zum militärischen Sperrgebiet erklärt. Niemand hat Zutritt, auch nicht die Polizei.
Wo kommen die Amerikaner so schnell her? Dürfen die das überhaupt? Sind wir nicht ein souveräner Staat?
 
Ein Remscheider Kollege hat Geburtstag. Er geht durch die Flure, läd alle in den Aufenthaltsraum ein. Nach Feierabend wollte er dort eine kleine Feier ausrichten, Schnittchen, Kaltgetränke.
Faber hat noch kein Büro zugewiesen bekommen. Er geht hinunter. Der Raum ist gut gefüllt. Die Biere bleiben unangetastet. Schweigend sitzen Uniformierte bei Kaffee und Tee, starren vor sich hin, einige weinen. „Ich habe einen abgerissenen Kopf von einem Ast gepflückt“, flüstert einer.
Andere setzen ein: „Wie nach einem Bombenangriff...Der Asphalt glüht...Häuser stehen in Flammen...“
Die Kollegen des Streifendienstes waren noch vor den Amerikanern dort. Sie haben Leichenteile eingesammelt, in Spermüllsäcke gepackt. Ein Torso mit amerikanischer Uniform war auch dabei. Alles sei schon auf dem Weg zur Gerichtsmedizin in Düsseldorf.
Faber wird das morgen sehen, wenn er mit seinem Team Körperteile zuordnen muß, das Geschlecht bestimmen, besondere Merkmale notieren, vergleichen mit den Vermißtenmeldungen, mit den Angaben von trauernden Angehörigen.
Den Piloten wird er nicht sehen. Noch in der Nacht holten ihn die Amerikaner ab.
 
So oder ähnlich könnte ein Tatsachenroman über den katastrophalen Absturz der amerikanischen Militärmaschine in Remscheid beginnen. Doch der Roman beginnt anders: Eine Frau in ihrem idyllischen kleinen Haus am Waldrand. Ihre Kinder spielen im Zimmer über ihr. Ein unheilvolles Dröhnen läßt sie erschreckt nach draußen blicken. Nebel. Das Dröhnen wird lauter, donnert knapp über das Haus hinweg, dann eine Explosion, Stille folgt.
Veronika Wolf schildert das Geschehen. Sie ist die Frau in dem Haus gewesen. Fünfundzwanzig Jahre nach dem Absturz des Militärjets schreibt sie den Tatsachenroman „Schweigende Stadt“.
Sie schildert die Verwandlung ihrer Romanfigur „Laura“ von einer Hausfrau zu einer Umweltaktivistin bis hin zu einem späten Studium und Gründung einer Firma für nachhaltige Stadtentwicklung, ökologisch und sozial, die sie zusammen mit ihren jetzt erwachsenen Söhnen betreibt.
 
Die Frage nach dem Hergang des Absturzes bleibt bis heute unbeantwortet. Warum die Maschine über Remscheid flog ebenso, denn ihre vorgegebene Route war eine andere. Noch drängender waren die Fragen nach den Inhaltsstoffen des Flugzeuges – scharfe Munition, Uran und welche giftigen Stoffe wurden durch die Explosion und den Brand freigesetzt? Seltsame Erkrankungen häuften sich im Absturzgebiet, Fehlgeburten und Krebserkrankungen traten vermehrt auf.
Ist der Boden verseucht, die Gärten der Anwohner, ihre Häuser und Wohnungen?
Laura stellt Fragen, sucht Antworten, läßt sich in den Umweltausschuß der Stadt wählen, gründet eine Bürgerinitiative und rennt gegen eine Mauer des Schweigens an. In den Jahren nach dem Absturz werden Lauras Fragen drängender. Sie wird eingeladen, oder waren es Vorladungen, zu Ministerien, zu Ausschüssen, zu den Amerikanern.
Befriedigende Antworten erhält sie nicht; aber anonyme Hinweise, lernt geheimnisvolle Menschen kennen und Offizielle, die ihr heimlich Unterlagen zukommen lassen.
Fünfundzwanzig jahrelang kämpft Laura gegen Inkompetenz, Nichtwahrhabenwollen und Verschleierungstaktik.
Veronika Wolf schrieb Lauras Geschichte auf, deklarierte sie als Roman. Ein Verlag wurde schnell gefunden, war aber mit dem von Wolf ausgesuchten Titelbild nicht einverstanden, einer Zeichnung ihres damals sechsjährigen Sohnes, die der Junge unter dem Eindruck des Absturzes malte.
Kurzerhand veröffentlichte Veronika Wolf das Buch im Eigenverlag. Es verbreitete sich rasend, allein durch Mundpropaganda. Sogar Filmrechte wurden schon erworben.
Ein intensives Lektorat hätte sicher ihrem Stil mehr Schwung gegeben. Das hemmt jedoch nicht die Wucht dieses Buches, ein Dokument des Schreckens. Emotional, engagiert und bedrückend, unbedingt empfehlenswert.
Wer es kauft, spendet automatisch einen Teil des Bucherlöses für weitere Bodenuntersuchungen im Absturzgebiet. Zu beziehen unter www.flugzeugabsturz-remscheid.de oder info@flugzeugabsturz-remscheid.de. Auch bei einem Internetbuchhändler, dessen Namen ich nicht nennen möchte, ist es erhältlich.
 
Veronika Wolf – „Schweigende Stadt“
© 2014 Veronika Wolf, 244 Seiten Broschur - ISBN: 978-3-00-047485-9
€ 14,99