Der Trumpf im Notizbuch

von Aske Munck

© Aske Munck
Der Trumpf im Notizbuch
 
von Aske Munck
 
Wenn ich mich an meinen Schreibtisch setze, muß ich immer erst ein kleines Plätzchen freischaufeln, um zwischen den Bergen von Notizbüchern, die mit meinen Schnellschrift-Kritzeleien angefüllt sind, arbeiten zu können. Ich mache nämlich immer noch meine Notizen handschriftlich und habe sogar ein recht umfassendes Artikelarchiv.
Wenn ich bei einer Pressekonferenz auf meine französischen Kollegen treffe – die sonst nicht gerade für ihre Fortschrittlichkeit bekannt sind – fühle ich mich hoffnungsos altmodisch, weil die in die Tasten ihres Laptops hauen, während ich dasitze und in mein Notizbuch kritzele. Ja, ich habe sogar einen Kollegen, der seinen Laptop zu Reportagen im Freien mitnimmt, weil er glaubt, damit Zeit zu sparen.
Für mich taugt das nicht. Ich halte an meiner Routine fest. Nicht zuletzt, weil ich mit geschlossenen Augen alles in meinen Notizbuch-Bergen sofort orten kann, während es manchmal ewig dauert, ein Dokument auf dem Desktop meines Computers wiederzufinden. Und weder smarte Apps noch elektronische Kalenderprogramme bringen mich dazu, meinen großen Papier-Wandkalender aufzugeben.
 
Ich schreibe mit Füller. Den bekam ich von meinen Eltern zum Abitur, nahm ihn aber erst richtig in Gebrauch, als ich anfing, in Südfrankreich Staatslehre zu studieren. Da machte mich ein Kommilitone darauf aufmerksam, daß die Professoren sozusagen erwarteten, daß man seine Notizen mit Füllfederhalter schrieb – und nicht mit Filzstift oder Kugelschreiber (Bleistift war natürlich völlig undenkbar).
„Damit erweist man dem Professor Respekt und bekundet, daß man das Studium ernst nimmt“, erklärte er, während er auf den Professor, Monsieur de Cara deutete. Ein unnahbareres Gemüt, dessen Vornamen wir nie erfuhren, von dem wir aber wußten, daß er adlig sein mußte, da das „de“ in seinem Namen kleingeschrieben wurde. Und daher war es so eine Art von Sieg für mich, als er eines Tages meinen Montblanc Füllfederhalter lobte und sich seitdem an meinen Namen erinnerte.
Und seither habe ich alle meine Notizen mit dem Füller in ein in Moleskin gebundenes Notizbuch geschrieben, das ich für teures Geld erwerbe, da insbesondere französische Philosophen und Verfasser tief beleidigt wären, wenn ich mit einem blauen Spiralheftchen und angeknabbertem blauen Kugelschreiber auftauchen würde, um ihr allergnädigst ausgeteiltes kostbares Gedankengut damit auf's Papier zu bannen.
Doch vieles hat sich geändert. Als ich vor ungefähr einem Jahr die École de Guerre Économique in Paris besuchte, verschanzten alle Studenten sich tastenklappernd hinter Computerschirmen und ich war wieder einmal der einzige, der seine Notizen mit der Hand schrieb. Die Studenten schauten mich an, als ob ich Runen gravierte. Ich muß daran denken, daß einer meiner besten Freunde zu meinem 40. Geburtstag verkündete, er sei erleichtert darüber, daß mein physisches Alter jetzt endlich dabei sei, mein mentales Alter einzuholen, da ich seiner Meinung nach schon seit der Schulzeit 40 war. Und dort, in Paris, fühlte ich mich wie das letze Glied einer aussterbenden Generation, die aus gleichen Teilen Nostalgie und geistigem Konservatismus heraus versucht, mit dem wohltuenden Kratzen des Füllfederhalters auf dem rauhen Papier ihre Angst vor dem Fortschritt zu lindern.
Gleichzeitig plädieren mehr und mehr Leute dafür, die Handschrift völlig abzuschaffen und die Schüler nur noch auf iPads und Computern schreiben zu lassen. Warum sollten sie auch überhaupt einen Stift in die Hand nehmen, um schreiben zu lernen? Alle schriftlichen Examen gehen doch schon heute von klein auf per Computer vonstatten, niemand schreibt noch Briefe, und sogar die Postkarten verschwinden im Takt mit dem Ableben der Großeltern und sind durch einen Schnappschuß auf Facebook oder Instagram ersetzt worden.
 
Durch einen reinen Glücksfall hat die neuere Forschung innerhalb der kognitiven Psychologie jedoch ein schlagendes Argument zugunsten der Handschrift gefunden.
Psychologieforscher in Princeton haben nämlich nachweisen können, daß das Aneignen von Lehrstoff oberflächlicher wird, wenn Studenten auf dem Computer statt auf dem Papier ihre Notizen machen. Auf einer Maschine geschriebene Notizen sind eher stenografisch, d.h. geben eher wortwörtlich das Gesagte wieder, während die handgeschriebenen schon eine gewisse Zusammenfassung des Stoffes sind und auch die Pointe dessen, was gesagt wird, bereits erfassen. Die Forscher fanden ebenfalls heraus, daß die handschreibenden Versuchspersonen den zentralen Inhalt dessen, was sie notiert hatten, auch besser erklären konnten. Die Handschreiber bearbeiten sozusagen das Gehörte, wobei die Bearbeitung das Aneignen des Lehrstoffs unterstützt.
Denn wie schon James Joyce sagte, so „ist es mit Worten wie mit Sonnestrahlen: je konzentrierter sie sind, desto stärker brenne sie“.
Dies ist jedoch längst nicht das einzige Argument dafür, die Handschrift in den Schulen zu bewahren. Nach Erkenntnissen französicher Forscher in kognitiver Neurowissenschaft trägt die physische Schrift auch ganz wesentlich dazu bei, das Erlernen von Lesen und Schreiben im Gehirn des Kindes zu verfestigen.
Beim Schreiben mit der Hand werden sowohl die motorisch-sensorischen Teile der Großhirnrinde als auch das Broca-Areal, d.h. das Sprachzentrum, aktiviert. Und mit Hilfe sogenannter funktioneller MR-Scannings hat man demonstrieren können, daß bei einer Versuchsperson schon das Zeigen eines einzelnen Buchstabens genügt, um diese Gehirnzentren zu aktivieren. Lernt man mit der Hand zu schreiben, wird man im Gehirn die Bewegung aufrufen, mit der man den Buchstaben schreibt, den man gerade vor sich sieht. Die Handschrift sichert also die physische Verankerung des Gelernten - etwas, das auf einer Tastatur unmöglich erreicht werden kann, da es hier ja gleichgültig ist, ob man nun auf 'd' oder 'b' drückt, die wenige Zentimeter voneinander entfernt liegen. Aber eben diese besonderen Buchstaben, die einander „spiegeln“ (wie p und q, b und d, w und m), sind für Kinder besonders schwer zu lernen, und die französischen Forscher bewiesen, daß Kinder, die mit der Hand schreiben, viel leichter und schneller als die „Tastaturkinder“ lernten, diese sich spiegelnden Buchstaben voneinander zu unterscheiden .
Und dabei hat die moderne Forschung nicht einmal alle die Ablenkungen in Betracht gezogen, durch die man beim Gebrauch des Computers in Versuchung gerät. Auf der École de Guerre Économique konnte ich nämlich etwa ein Drittel der Computerschirme sehen - und die Studenten, die Notizen machten, spielten gleichzeitig auch Patience, waren auf Facebook und Messenger und sahen YouTube-Videos an.
Vielleicht ist das der Grund dafür, daß die Leiter der großen kalifornischen IT-Giganten nicht im Traum daran denken würden, selbst e-learning zu benutzen und daß sie ihre Kinder auf Schulen schicken, auf denen man noch Handschrift lernt. Denn wie George Bernard Shaw einmal schrieb: „Der vernünftige Mensch paßt sich der Welt an; der unvernünftige besteht auf dem Versuch, die Welt sich anzupassen. Deshalb hängt aller Fortschritt von unvernünftigen Menschen ab.“
 

Aus dem Dänischen von Gabriele Bech-Andersen