Das Leben ist keine Komödie

Fritz J. Raddatz – ein posthumes Porträt des Autors und Publizisten

von Jürgen Koller

Das Leben ist keine Komödie
 
Fritz J. Raddatz –
ein posthumes Porträt des Autors und Publizisten

von Jürgen Koller
 
In einem Interview mit dem Magazin 14/2014 der Süddeutschen Zeitung verwahrte sich Fritz J. Raddatz gegen die Empfehlung Dürrenmatts, das Leben als Komödie zu sehen – und er schob gleich noch die Sätze hinterher, „aber der Mann ( Dürrenmatt) war, wie wir alle wissen, etwas dumm. Man kann manches grauslich komisch finden, aber das Leben ist keine Komödie.“ Wenige Wochen später, im September 2014, mit 83 Jahren, erklärte Raddatz mit einem publizistisch brillanten Geniestreich im Journal „Die Literarische Welt“ seinen Abschied vom Journalismus. Er sei „aus der Zeit gefallen“, seine „ästhetischen Kriterien seien veraltet“. Die Zeichen der Welt würden „mehr und mehr zu Rätseln – unlösbar oft, abstoßend nicht selten, sie seien seiner „Lebensart“, seinem „Habitus“, seinem „Geschmack ungemäß“ Er wolle nicht als eine „Legende“, als ein „Denkmal“ oder „eine Ikone“ eingeordnet werden, so „etwa zwischen Nibelungenlied und dem Bismarck-Monument hoch über dem Hamburger Hafen“.
 
Wer war dieser Literaturmensch Fritz J. Raddatz, der nach seiner Zeit als Cheflektor beim Rowohlt Verlag in den Sechzigern anschließend für ein Jahrzehnt das Feuilleton des Blattes „Die Zeit“ verantwortete? Bei Theo Sommer, damals Chefredakteur, heißt es in dessen Erinnerung an Raddatz: „Er war einer der großen Feuilletonchefs des Blattes, ja: seiner Zeit. Voller Temperament und schöpferischer Nervosität, streitbar und umstritten, elegant und exzentrisch, ein Narziß, aus dessen herausfordernd zur Schau getragener Eitelkeit nicht nur seine Schwächen, sondern auch seine großen Stärken erwuchsen. Er war Genie, Geck und Galan, Paradiesvogel, Polemiker und Provokateur, ein Mann der Manieren und der Manieriertheiten.“ Und, dem ist noch hinzuzufügen, Raddatz war ein Mann von phänomenaler literarischer Bildung und von tiefgründiger Kenntnis nicht nur der Literatur, sondern auch des Theaters und der bildenden Kunst. Er war zugleich ein Literat von größter Produktivität mit fast vierzig Buchtiteln – Autor und Bücherchmacher, Essayist, Journalist, Publizist und Herausgeber ganzer Werkausgaben, so hat er „Kurt Tucholsky wieder in den deutschen Kulturkanon eingemeindet“.
 
Der Lebensweg von Raddatz, geboren am 3. September 1931 in Berlin, war seit frühester Kindheit an nicht frei von Brüchen. Fritz Joachim Raddatz' Mutter, eine „Pariserin aus reichem Haus“ starb bei seiner Geburt, sein Vater war ein „nicht unbekannter“ Mann, den er aus diesem Grunde nicht nennen wollte. Sein Stiefvater, im 1. Weltkrieg Oberst in Richthofens Staffel und später Direktionsmitglied der UFA, mißhandelte ihn in seiner Kindheit körperlich brutal und zwang ihn als Kind zum Sex mit seiner Stiefmutter. Raddatz sah dies „als Kindermord“ und hat das viele Jahrzehnte später in seiner Autobiografie öffentlich gemacht. In den Nachkriegsjahren sei er „eine Schwarzmarktratte, gotterbärmlich arm und verdreckt“ gewesen. Nach dem Tod des Stiefvaters 1946 wurde Pfarrer Hans-Joachim Mund (1914-1986) sein Vormund. Mit 15 Jahren begann er nach eigener Aussage eine Affäre mit Mund. Aus seiner bisexuellen Orientierung machte Raddatz zeitlebens kein Geheimnis, er betonte aber, daß er in Größenordnungen viel öfter mit Männern zusammen gewesen sei.
 
Aus politischen Gründen nach Ost-Berlin gegangen, studierte er ab 1950 an der Humboldt-Universität Germanistik, Geschichte, Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Amerikanistik. Gerade am Tag des Volksaufstandes in der DDR, am 17. Juni 1953, mußte er sein Staatsexamen ablegen. 1958 promovierte er und 1971 folgte die Habilitation an der Universität Hannover bei Hans Meier. Bereits 1953, also mit 22 Jahren, wurde Raddatz Leiter der Auslandsabteilung und stellvertretender Cheflektor beim Ost-Berliner Verlag Volk und Welt. Ständig im harten Konflikt mit den doktrinären Positionen der Regierungsbehörden und der SED-Obrigkeit geriet er in das Blickfeld der Staatssicherheit, zumal er in keiner der sogenannten DDR-Massenorganisationen Mitglied war, sei es Kulturbund, FDJ, Ost-Gewerkschaft oder Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Nach einem Tip, daß ihm die Verhaftung drohe, floh er Hals über Kopf nach West-Berlin und von da in die Bundesrepublik - das war 1958.
 
Im Jahre 1960 wurde Raddatz von Heinrich Maria Ledig-Rowohlt zum Cheflektor und stellvertretenden Verlagsleiter des Rowohlt Verlages ernannt. Unter dem energiegeladenen Cheflektor wurde der Rowohlt Verlag in den Sechzigern zu einem der bedeutendsten deutschen Verlagshäuser. Raddatz hatte das feine ästhetische (und auch kommerzielle) Gespür für internationale Autoren und deren literarische Qualität. Hier nur einige Namen – Jean Paul Sartre, James Baldwin, Susan Sontag oder Philip Roth, aber auch junge deutschsprachige Begabungen förderte er, etwa Gisela Elsner, Hubert Fichte, Konrad Bayer oder Elfriede Jelinek. Mit der Broschur-Reihe „rororo-aktuell“ gab er seinerzeit den Aktivisten der 68er Bewegung das theoretische Rüstmaterial in die Hand. Er fand den „antibürgerlichen Impuls richtig und habe deshalb mit vollem Bewusstsein und mit großem Applaus und … mit gigantischem Erfolg diese Bücher verlegt“. Als exzentrischer Elegant und als Literat mit Manieren und Privilegien fühlte er sich aber keinesfalls zu den Massendemonstrationen der 68er Studenten hingezogen – da blieb er ein Mann des bürgerlichen Establishments. Sein voreiliges „Ja“ zum Druck einer riesigen Auflage kleiner politischer Broschüren, die von Bundesdienststellen per Ballon über die Zonengrenze geschickt werden sollten, gerichtet an die DDR-Bürger und letztlich eine Aufforderung zur Spionage, fand bei der Geschäftsführung kein Verständnis, und auch Ledig-Rowohlt verlor die Lust auf Skandale. Er entzog Raddatz seine schützende Hand. So mußte dieser 1969 seine Funktion aufgeben.
 
Zu ganz großer journalistischer Form lief Raddatz ab 1976 als Feuilleton-Chef des Wochenblattes „Die Zeit“ auf. „Voller Temperament und schöpferischer Nervosität“, aber zugleich polemisch und provokant, eitel und exzentrisch, sah ihn Theo Sommer. Seine literarisch-journalistische Kreativität und sein „schreiberischer Ehrgeiz“ kannten keine Grenzen. Zugleich verdeutlicht sein großer Bekannten- und Freundeskreis seine Kontaktfreudigkeit. Aber auch der Kreis seiner Feinde war beträchtlich – so sah er mit beachtlicher Arroganz in Marcel Reich-Ranicki einen „beißwütigen Literaturstalinisten“ und in Hellmuth Karasek „keinen Kollegen“, sondern einen „Heizdeckenverkäufer“.
Der Anlaß seines Sturzes als Feuilletonchef war eine im Oktober 1985 von Raddatz ungeprüft nachgedruckte Glosse der Neuen Zürcher Zeitung, wo Goethe angeblich beschreibt, daß „man damals das Gebiet hinter dem (Frankfurter) Bahnhof zu verändern (begann)“. Die literarische Bundesrepublik lachte hämisch – die erste deutsche Eisenbahn fuhr ja bekanntermaßen erst drei Jahre nach Goethes Tod.
 
Raddatz zelebrierte seine Eitelkeiten und Manieriertheiten nach außen sichtbar; das war kein Protz, das war sein Lebensstil - sei es die Wohnung in Hamburgs bester Alsterlage mit seltenen Pretiosen und ausgesuchten Kunstwerken, das Haus an der Côte d'Azur, das Ferienhaus auf Sylt, der Porsche oder später der Jaguar. Legendär waren seine Champagner Partys im Fackelschein oder die festlich inszenierten Dinners mit guten Freunden in seiner noblen Wohnung mit englischem Fischbesteck, ausgesuchtem Porzellan, edelsten Speisen und feinsten Weinen. Seine Maßanzüge, seine englischen Hemden und seine handgearbeiteten Schuhe, seine weißen Flanell-Hosen für den Strand oder seine Kaschmir-Pullover zeugten von Eleganz und sicherem Geschmack.
Obwohl seine Schreibwut ungebrochen war, wurde es mit fortschreitendem Alter langsam einsamer um ihn. Noch schrieb er für „Die Zeit“ als
Kultur-Korrespondent Kritiken und Reportagen, auch für „Die Literarische Welt“ großartige Essays, aber die Aufträge für Texte oder für Vorträge wurden seltener. Er mußte bei Redaktionen um Aufträge nachfragen. Seine Einkünfte wurden spärlicher. Gute Freunde starben, besonders der Tod seines lebenslangen Freundes, des Malers und Plastikers Paul Wunderlich hat ihn tief betroffen gemacht. In seiner Autobiographie und besonders in den beiden Bänden „Tagebücher“, 2010 und 2012 erschienen, fand er viele harsche Worte zu etlichen seiner Schriftsteller- und Kritikerkollegen und Mit-Zeitzeugen – nichts ist da von gnädiger Altersmilde zu spüren – weder gegenüber Bucerius, Gräfin Dönhoff oder Helmut Schmidt, den Herausgebern des Blattes „Die Zeit“, noch gegenüber Günter Grass, einst mit diesem befreundet, oder Martin Walser. Auch mit vielen anderen rechnete er ab, so mit Wolf Jobst Siedler, der die Memoiren des Alt-Nazis Albert Speer veröffentlicht hatte.
 
Raddatz, der große literarische „ Zauberer“ sagte von sich, er sei „nicht mehr zeitgemäß“. „Jede Zeit hat ihre Zeit. Will sagen: Man soll nicht - ich will nicht - der vergehenden Zeit hinterherlaufen“. Die Grenze des Erlebens sei für ihn erreicht, „ zu viele Gedichte sind nur mehr halbgebildetes Geplinker, zu viele gepriesene Romane nur mehr preiswerter Schotter“ - der Kulturbetrieb war für ihn nur noch medioker, mittelmäßig. Obwohl er sich körperlich mit gewissen Alterseinschränkungen abfinden mußte, war er intellektuell noch immer allen Anforderungen gewachsen, aber die Geschehnisse der Welt interessierten ihn nicht mehr, er fühlte sich überflüssig. Das Altwerden war für ihn, ganz im Sinne Philip Roths, ein „Massaker“. Und so verabschiedete sich Fritz J. Raddatz von dieser Welt mit den Worten „Time to say goodbye“. Am 26. Februar 2015 hat er in Zürich seinem Leben – in freier Entscheidung - ein Ende gesetzt.
 
Redaktion: Frank Becker