Archiv der Träume

Grafische Meisterwerke aus dem Musée d'Orsay in der Albertina, Wien

von Robert Sernatini

Titel: Edgar Degas, Nach dem Bad, 1895-98
Archiv der Träume
 
Grafische Meisterwerke aus dem Musée d'Orsay
und ihre zeitgenössischen Korrespondenzen
 
„Das Musée d'Orsay besitzt rund 80 000 Zeichnungen, darunter 19 000 Zeichnungen aus dem Bereich angewandte Kunst und Architektur, sowie über 700 Pastelle. Aufgrund ihrer Lichtempfindlichkeit werden die Zeichnungen nur sehr selten ausgestellt. Sie werden nach Format und Schule sortiert gemeinsam mit den Werken der vorigen Jahrhunderte großteils in der Abteilung für grafische Künste des Louvre aufbewahrt. Sie sind der Öffentlichkeit in einem Lesesaal im Depot zugänglich. Die sorgfältig geordneten Archive werden sich wohl niemals vollständig dem Betrachter offenbaren.“
Soweit das Pariser Musée d'Orsay über seinen dem Publikum kaum bis gar nicht zugänglichen graphischen Schatz.
 
Der hoch dekorierte Kunsthistoriker, Buchautor, Kolumnist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Werner­ Spies, langjähriger Pariser Museumsleiter, bekam freie Hand, rund 150 der besten grafischen Blätter aus den „weithin unbekannten Beständen der grafischen Sammlung“ (so Spies) des Musée d’Orsay für eine Ausstellung auszuwählen, um sie dann mit Arbeiten von Künstlern heute in einen Dialog treten zu lassen. Keine leichte Aufgabe angesichts des ungeheuren Angebots. Individuell daher die sehr persönliche Auswahl. Zeitgenössische Maler, Autoren, Graphiker, Fotografen, Filmemacher und Philosophen wurden eingeladen, ohne jede Vorgabe in selbst gewählter freier Form Zeichnungen und Grafiken von Künstlern des 19. Jahrhunderts zu kommentieren. Das Spektrum der eingereichten Interpretationen reicht in Bild, Wort, Kontrafraktur oder „Echo“ von eigenen, gelegentlich karikierenden künstlerischen Ergebnissen über persönliche Erfahrungsberichte, Gedichte und Erzählungen bis zu assoziativen Bildbeschreibungen. Eine unvollständige Liste der ausgewählten und teilnehmenden Künstler sehen Sie am Ende dieses Artikels.
 
Werner Spies hat seine Auswahl, die zu großen Teilen den Impressionisten Reverenz erweist und 2014 zunächst im Musée de l'Orangerie, Paris zu sehen war und derzeit bis 3. Mai in der Albertina, Wien gezeigt wird, in namentlich einzelnen Künstlern zugemessene Kapitel und

Charles Baudelaire - Selbstbildnis,1863
philosophisch-psychologisch zu verstehende Themenbegriffe geordnet: Der Blick nach innen, Arbeit und zum Stillstand gekommene Zeit, Kunst und Literatur, Geschichte, Venus oder Melancholie?, Monster und Chimären, Tod und Melancholie, Die Einsamkeit und das Nichts, Architektenträume. Das Ringen mit den schweren Träumen und Mahren nimmt dabei viel Raum ein.
Der Absinth-Trinker  Charles Baudelaire hat sich 1863 selbst portraitiert, Boualem Sansal hat über dieses Bildnis eines Gequälten, Zerrissenen als junger Mann eines Tages erst zu Baudelaires Lyrik, dann zu sich selbst gefunden – er beschreibt es eindrücklich. Thomas Ruff kommentiert Lovis Corinths Selbstbildnis von 1923 durch die Umkehrung des Originals ins fotografische Negativ. Das Kapitel „Degas“ z.B. gibt Alex Katz, Andreas Gursky, Paul Nizon, Luc Bondy, Mario Vargas Llosa, Sean Scully, Fernando Botero, Julia Kristeva, Jean Frémon und William Kentridge Raum, im Versuch der Entschlüsselung seiner Geheimnisse dessen Arbeit zu kommentieren, zu deuten, zu karikieren. Er malt, „was man nur in der Erinnerung sieht“, sagt Kristeva, während Vargas Llosa die wirkungsvolle Erotik seiner Akte preist.
Tomi Ungerer entdeckte als 17-Jähriger den Zeichner Rodin für sich und erzählt davon. Alexander Kluge, dessen Buch mit Stefan Moses´ Fotografien „Le moment fugitif“ soeben erschienen ist, spricht über Ernest Meissonier und die 1848er Revolution, und Alfred Brendel findet packende Worte zu Paul Gauguins „Gespenstische Gestalt“ (1890), der Peter Lindbergh seine Foto-Arbeit „Everywhere at Once“  gegenüberstellt. Die Kommentare sind so vielfältig wie die Kunst an sich, der Katalog eine unerschöpfliche Fundgrube.
 
Künstler des 19. Jahrhunderts: u.a. Charles Baudelaire, Eugène Boudin, Rudolphe Bresdin, Gustave Courbet, Honoré Daumier, Edgar Degas, Maurice Denis, James Ensor, Henri Fantin-Latour, Joan González, Georges Le Brun, Aristide Maillol, Édouard Manet, Jean-François Millet, Gustave Moreau, Odilon Redon, Pierre-Auguste Renoir, Félicien Rops, Carlos Schwabe, Paul Sérusier, Georges­ Seurat, Paul Signac, Léon Spillaert, Théophil Alexandre Steinlein, Henro Toussaint, Eugène Viollet-L-Duc
 
Künstler/Beteiligte von heute: u.a. Anita Albus, Pierre Alechinsky, Paul Auster, Georg Baselitz, Luc Bondy, Alfred Brendel, Tony Cragg, Hans

Ferando Botero 2013 zu Edgar Degas (s.o.)
Magnus Enzensberger, Jean Frémon, Durs Grünbein, Andreas­ Gursky, Peter Handke, Michael Haneke, David Hockney, Siri Hustvedt, Alex ­Katz, Anselm Kiefer, Alexander Kluge, Michael Krüger, Jonathan Meese, Herta ­Müller, Paul Nizon, Yasmina Reza, Jean-Jacques Sempé, Cindy Sherman, Kiki Smith, Philippe Sollers, Tomi Ungerer, Mario Vargas Llosa, Nike Wagner, Wim ­Wenders, Yan Pei-Ming
 
Ausstellung in der Albertina, Wien bis zum 3. Mai 2015 – zur Ausstellung ist ein unerhört spannender, umfangreicher Katalog erschienen, der mit seinem Blick der Moderne des 20./21. Jahrhunderts auf die Moderne des 19. Jahrhunderts durchaus als gültiges Dokument der Kunstgeschichte gelten kann:
Archiv der Träume – Hrsg. von Werner Spies
© 2015 Albertina, Wien /  Sieveking Verlag, 344 Seiten, geb. mit Schutzumschlag, 23 x 28,5 cm, 224 Abbildungen in Farbe, Texte von Werner Spies und Leila Jarbouai -  ISBN 978-3-944874-17-3
45,- €
 
Weitere Informationen: www.sieveking-verlag.de  -  www.albertina.at/
 
Redaktion: Frank Becker