Zeitzeugen

Gedicht

von Dorothea Renckhoff

Zeitzeugen

I.

Oft in der Nacht
Schmelzen die schützenden Mauern.
Wieder stehen
Im Licht der alten Straßenlaterne
Sofa, Tisch und Buffet
Auf dem Teppich am Bordstein.
Flocken von Ruß weht der Wind
In das wandlose Zimmer.
Längst zur fernen Volière
Kehrte der fliegende Schwarm zurück,
Doch das Glühen im Haus
Frisst weiter.
Seit wann brennt die Laterne wieder?

II.

Es muss die Standuhr gewesen sein,
Die das Zeichen gab,
Vor Sonnenaufgang.
Zittern von Löwentatzen,
Noch halb verborgen vom Tafeltuch,
Schritte, aus allen Ecken,
Schwerfällig, lautlos,
Zur Tür.
Am Morgen
Das Zimmer leer.
Keine Spur
Als die Abdrücke ihrer Füße,
Schwer von Jahrzehnten,
In den Ranken des Teppichs.
Auch er verschwand
Mit der kaum entzifferten Botschaft
Beim nächsten Schrei der Sirene.
Fort, verloren-gegangen.
Nur zwei oder drei
Tauchten noch einmal auf,
Wie Ertrinkende.
Zuletzt das Schaukelpferd
Auf dem Bahnhof von Dresden,
Rötliches Zucken im abgewetzten Fell,
Vergebliche Abwehr
Von Geschwadern schwarzer Fliegen.

III.

Nach dem Kaffee
Entblößten sie ihre Brandwunden.
Der Tisch hob den Schleier
Wischte die letzten Gedecke von der Stirn.
Enthüllt die Schicht darunter.
Weißer Staub
Aus Mauern Asche Knochen.
Hell überpudert stehen die Stühle. Zwölf.
Regungslos warten sie, schweigend
Auf Verschollene. Besitzer.


Dorothea Renckhoff


© Dorothea Renckhoff - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007
Beispielbild

Dorothea Renckhoff:
Studium Theater- und Literaturwissenschaft u. Theorie des Films
 1972 – 1974 Dramaturgie in Bochum bei Peter Zadek. Arbeit mit Tankred Dorst, Werner Schroeter, Rainer Werner Fassbinder u. a.
1974 – 1976 Dramaturgin Freie Volksbühne Berlin. Arbeit mit Kurt Hübner, Helmut Käutner, Peter Zadek u. a.
1976 – 1978 Theaterübersetzerin, Dramaturgin, Regieassistentin u. Autorin WDR-Fernsehen
1978 – 1983 Dramaturgin Rheinisches Landestheater Neuss und Theater am Niederrhein Kleve
1983 – 1989 Städtische Bühnen Münster
seit 1989 freischaffend in Köln als Autorin und literarische Übersetzerin.

Veröffentlichungen u.a.:
Hörspiele: Das Luftspringerkind (WDR 1995)  Das Haus am Kanal  (WDR 1997)
Bühnenwerke:
Das klingende Haus. Theaterstück 1998, UA 15. 11. 2001 Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Klassik für jedes Wetter. Schiller und Goethe live auf Wetwork. Theaterstück 1999
Glanz und Verdunkelung. Frische Blumen für Straus. Theaterstück 2002
Der gläserne Birnbaum oder Milstein wartet auf mich. Theaterstück 2004
Der blaue Vogel. Oper. Musik von Harald Banter, 1999 (Textbuch und Klavierauszug) UA 4.9.1999, Theater Hagen

Übersetzung von mehr als zwanzig Theaterstücken u. Fernsehspielen, die erfolgreichste (Shakespeare’s Sämtliche Werke – leicht gekürzt) wurde an weit über fünfzig deutschsprachigen Theatern gespielt

Bücher:
- Willy Millowitsch. Lebensbilder – Theaterbilder. (Biographie). Köln 1996
- Vergiftet. Kriminalnovelle. Neuss 2000