In Kürze werden sich ganz ungewöhnliche Dinge ereignen

von Hanns Dieter Hüsch

© 2015 Charlie Hebdo

In Kürze werden sich ganz ungewöhnliche Dinge
Ereignen, im Singular und im Plural.
Die, die das absolute Gehör haben, werden vielleicht
Etwas eher davon erfahren als wir anderen Sterblichen.
Aber wir alle werden das Ungewöhnliche noch erleben:
Wir werden das, was wir haben, nicht mehr haben,
Sondern das haben, was wir immer schon eigentlich
Haben sollten.
Nicht, daß wir schon auf dem Mond Fußball spielen
Können oder auf dem Mars Folklore-Lieder singen.
Das kommt erst später.
Nein, ganz andere Dinge werden eintreten:
Die Menschen - Sie gestatten - werden sich ändern.
Der Himmel wird sich lichten und es wird ein Schimmer
Paradiesischen Glücks allenthalben zu sehn sein.
Schon morgen werden Sie feststellen, wenn Sie aufstehn,
Daß alles ganz anders ist:
Es wird keine Unruhe mehr geben, kein Wettlauf mit
Den Nachbarn, mit den Berufskollegen, es wird nicht mehr
Ums Prestige gehn, man braucht seine Meinung nicht mehr
Zu verstecken, man kann freundlich und friedlich über
Alles, dieses und jenes sprechen.
Kein Kampf mehr bis aufs Messer.
Alles ist selbstverständlich.
Denn da wird plötzlich ein einziger Dialog sein, den
Alle mit allen führen und unsere kalte, unpersönliche
Welt wird sich erwärmen.

Fremde gebären nicht mehr Fremde und alle Türen werden
Nicht nur weit aufstehn, man wird sie einfach aus den
Angeln nehmen, weil sich niemand mehr verschließen,
Abschließen will, weil man erkannt hat, daß
Neger auch Menschen sind, bis ins kleinste Dorf.
Jeder erkennt das plötzlich, schüttelt den Kopf,
Daß er bislang so blind war, daß er jetzt nicht mehr
Um sich zu schlagen braucht in blinder Wut.
Nichts mehr ist angestaut. Die Vorfahren sind tot.
Keiner plappert mehr nach, was an Biertischen vorgestammelt wurde.
Keiner sieht sich mehr in der Rolle
Des Allzugerechten und schlägt auf wehrlose Menschen ein,
Die er gar nicht kennt, von denen er nur gehört hat,
Sondern man läßt alle in ruhiger Freundlichkeit
Gewähren, in Freiheit von leichter Hand, in Frieden
Von menschlicher Einsicht.

Es werden auch die Soldaten langsam nicht mehr durch
Die Stadt marschieren, sie werden langsam nach Hause
Gehn und Apfelbäume -
Wenn ich ein Dichter wäre, müßtens Apfelbäume sein -
Und Apfelbäume pflanzen. ln Peking werden die Soldaten
Mit ihren Bajonetten kleine Holzvögelchen schnitzen
Und überall werden die Soldaten voller Freude wieder
Ein richtiges Handwerk erlernen und mit den Kindern
Sonntags auf den Hügeln sitzen und Pflanzen beschreiben.
Die großen Raketen werden zwar zunächst noch in den
Museen zu sehn sein, aber dann wird man bald darüber lachen,
Und der große amerikanische Präsident wird am lautesten
Darüber lachen.

Die ganze Welt wird lachen.
Und wie das so ist, zuerst werden alle Menschen etwas
Verlegen grinsen, dann werden sie lächeln, dann lachen
Und schließlich so losprusten, daß die, die noch
Vor kurzem sehr geweint hatten, schon ein bißchen mitlächeln.
Man wird sich auf die Schulter schlagen und
Sagen: Mensch, -

Denn ein anderes Wort wird ihnen zunächst nicht einfallen -
Mensch! werden sie alle sagen, und denken werden sie
Alle, wie konnten wir nur so lange so dumm sein, wo wir
Doch immer dachten, wir wären so klug.
Und es wird tatsächlich ein Schimmer paradiesischen
Glücks allenthalben zu sehn sein. In dieser Zeit,
Die ganz kurz vor uns liegt.
Und wenn wir dann sehen, wie die Marxisten nicht mehr
Marxisten und die Kapitalisten nicht mehr Kapitalisten
Und die Faschisten nicht mehr Faschisten und die Kommunisten
Nicht mehr Kommunisten und die Nationalisten nicht
Mehr Nationalisten und die Rassisten nicht mehr Rassisten
Und die Stalinisten nicht mehr Stalinisten sein wollen, -
Dann werden wir sehn, wie eine zufriedene Menschheit
Durch Täler und Schluchten, über Gebirge und auf wilden
Flüssen sich auf den Weg macht, um sich Gutentag zu
Sagen und zu fragen: Wie geht es Ihnen?
Und wen wunderts dann, wenn dann Chinesen in Bonner
Cafés sitzen und Deutsche auf dem roten Platz in Moskau
Luftballons steigen lassen, wen wunderts dann, wenn
Orthodoxe mit Atheisten sich übers Wetter unterhalten
Und Farbige in europäischen Krankenhäusern operieren
Und Juden und Kleinbürger, Hindus und Christen an einem
Schönen runden Tisch im Freien sitzen und sich alte
Witze erzählen. Wen wunderts dann?

Und dann kommen auch noch die Amerikaner und singen
Eins ihrer vielen lustigen Lieder. Und der Refrain eines
Liedes könnte vielleicht heißen: Wenn wir ehrlich sind,
Alter Bursche, müssen wir doch zugeben, daß wir alle
Gleich sind, das bißchen Fleisch und Knochen, das ist
Doch nichts Besonderes, darum laß uns daran denken,
Alter Bursche, daß von uns das Gleiche übrigbleibt. -
Und so wird es durch die ganze Welt gehen:
Keiner fragt mehr nach Konfession oder Hautfarbe, nach
Weltanschauung und Parteibuch, nach Bankkonto und
Gesellschaftlicher Position. Aller ideologische Ballast wird
Über Bord geworfen. Hochmut und Intoleranz kommen
Tatsächlich vor dem Fall. Besserwisser und Sklavenhalter,
Und die Fiedler auf den Straßen
Der Mensch kommt zur Ruhe. Die Zukunft leuchtet! - Tja -.
Aber da sehe ich etwas, was ich noch nicht genau erkennen
Kann. Irgendwo, vielleicht hier ganz in der Nähe, wird ein
Mann auf seinen Nebenmann losgehn. Er wird seinem
Nebenmann ein wunderbares Stilett quer durch den Hals
Stoßen. Er wird dabei sagen: Du radikal kommunistischer
Kapital-Christ! Oder sowas ähnliches wird er jedenfalls
Sagen. Er zieht schon sein Stilett aus dem Hals seines
Sterbenden Nebenmannes und geht durch die gelähmte
Menschenmenge. Er sucht sich schon sein nächstes
Opfer.

Mehr kann ich im Moment nicht erkennen.


1967
 


© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus dem Band "Den möcht´ ich seh´n..." in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung