„Kunstimporte” aus den USA (1)

Gorey – Sendak

von Joachim Klinger

Edward Gorey - © Joachim Klinger
„Kunstimporte” aus den USA
 
Gorey – Sendak
 
 
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte das „alte” Europa eine geradezu stupende Blütezeit im Bereich der grafischen Künste. Insbesondere die Karikatur, vielgestaltig und ideenreich, fand einen fruchtbaren Boden und gedieh.
 
In seinem Vorwort zu den „99 boshaften Zeichnungen” von Ronald Searle in „Weil noch das Lämpchen glüht” (Diogenes Verlag AG Zürich 1952) befindet Friedrich Dürrenmatt: „Die Karikatur ist eine Waffe des menschlichen Geistes geworden, das ist zu bedenken, eine der Möglichkeiten der Kritik am Menschen, und ich glaube nun nicht, daß dies so überflüssig ist.”
Im Publikationsverzeichnis des für die Verbreitung der qualitätvollen Grafik, insbesondere der Karikatur, so verdienstvollen Verlages (op. cit. letzte Seite) finden sich Namen wie Bosc, Chaval und Sempé (Frankreich), Franziska Becker,  Hans Traxler und F.K. Waechter (Deutschland), aber auch bereits Edward Gorey (USA).
Gewiß, das „alte” Europa konnte über einen Mangel an guten Karikaturisten und Buchillustratoren nicht klagen. In Deutschland beispielsweise wies der vielseitige und mit allen Wassern gewaschene Loriot dem Bürger neue und überraschende Wege zum Erfolg („Loriots Wegweiser zum Erfolg”, Ullstein Buch Nr. 427, ausgewählt aus „Diogenes Tabus” von 1954 bis 1963).
In Frankreich erfreute Jean Jacques Sempé Tausende von Familien mit seinem „Lehrbuch” über den Umgang mit Kindern („Wie sag ich’s meinen Kindern?” – Diogenes Verlag AG Zürich, 1960 ff., z.T. entnommen der Zeitschrift „Punch”). Aber es gab einige Amerikaner, die ebenso neuartige wie großartige Werke präsentierten und auf dem europäischen Büchermarkt rasch Fuß faßten.
 
Ich nenne zunächst Edward Gorey (1925-2000) und Maurice Sendak (1928-2012). Edward Gorey debütierte 1961 in Deutschland mit „Der zweifelhafte Gast” (Text in der Übersetzung von Fridolin Tschudi), und der Diogenes Verlag sah sich veranlaßt, dem Leser/Betrachter vorsorglich den folgenden Hinweis zu geben: „Sie werden sich bestimmt fragen: Was ist das für eine Art von Buch? – Die Kritiker haben Edward Goreys bisherige Werke folgendermaßen beschrieben: bemerkenswert, seltsam, schrecklich, verrückt, klug, makaber, pointenlos, sauber, morbid, komisch, ungewöhnlich, gräßlich, düster, rücksichtslos – und so fort ….”
Das Büchlein wird aktuell bleiben, oder – besser gesagt – es wird uns immer wieder ansprechen. Fremdsein und Andersartigkeit begegnen uns auf Schritt und Tritt. Das seltsame Wesen, das in einer wilden Nacht bei einer großbürgerlichen Familie klingelt und sich bei ihr auf Dauer einnistet, ist nicht nur eine ungewöhnliche Erscheinung, es ist nicht „integrierbar” und im Grunde recht lästig. Es verzehrt z.B. nach dem Toast das Tafelgeschirr, schläft in einer riesigen Suppenterrine, verschleppt Handtücher und versenkt Wertgegenstände im Teich. Soll man die Polizei, die Feuerwehr, die Zoodirektion verständigen? Soll man Ärzte, Psychologen, Veterinäre zu Rate ziehen? Mitnichten! Die Familie toleriert das Wesen, sie findet sich ab mit ihm und den überraschenden Handlungen. Am Ende des Buches sind siebzehn Jahre vergangen, und man bleibt und lebt zusammen. Diese Geschichte kann man nicht wegwischen mit dem Satz: So etwas gibt es nicht! Die Erfahrungswelt liefert keinen Gegenbeweis. Bleibt nur die Frage: Ist das Einwohnermeldeamt zu benachrichtigen? Eine neue Übersetzung ist 2013 im Lilienfeld Verlag unter dem Titel Ein fragwürdiger Gast erschienen.
 
Auch das zweite Buch für deutsche Leser/Betrachter ein großer Wurf! „Eine Harfe ohne Saiten oder Wie man einen Roman schreibt”, wieder erschienen im Diogenes Verlag (1963) – Verleger Daniel Keel (1930-2011) sei gepriesen! – Textübertragung von Wolfgang Hildesheimer.
Wie entsteht ein Roman? Was bewegt den Autor? Alle Fragen des Lesers finden in diesem Buch eine Antwort. Zitat Seite 8: „Der erste Schnee fällt, und Melf (das ist der Autor!) erwacht mit der schönen Gewißheit, daß dieser erste Schnee die ersten Seiten seines Romans füllen wird. Vielleicht gar wird daraus ein längerer Schneesturm. Das wirkt atmosphärisch stark, und es könnte sich einiges daraus entwickeln. Zufall, der sich zum Schicksal verhärtet, oder so etwas …”
Wir verfolgen alle Phasen eines qualvollen und doch immer wieder auch beglückenden Prozesses küstlerischer Produktion im Wort und Bild. Melf steht am Fenster, eine Hand gegen die Glasscheibe gepreßt. Melf irrt durch die großen Zimmer seines Domizils, in der einen Hand ein Marmeladenbrot, in der andern ein Glas Milch.
 „Und eines Abends, als Melf zum Abendessen geht, steht eine Nebenfigur names Penderdoone oben im Treppenhaus …” (S. 24)
 
Man betrachte das Bild auf Seite 19! Melf sitzt in einem altmodischen Vehikel, Notizblock, und Stift in der Hand, vor einer kargen Landschaft, in der Ferne eine „verlassene Fabrik, in welcher zur Zeit seiner Kindheit beliebte Scherzartikel und Feuerwerkskörper hergestellt wurden” (S. 18). Und dazu der unwiderstehliche Text: „Im Westen leuchtet gelbliches Abendlicht, es herrscht eine Stimmung von Melancholie und mildem Unheil. Das kann Melf im elften Kapitel brauchen, wenn Lemarmand im Park nach den sterblichen Resten seiner beiden Geliebten forscht …” (S. 18)
Oder das Bild auf Seite 31, das Melf im Nachthemd, eingehüllt in einen weiten Pelzmantel, mit dem Ausdruck erbarmungswürdiger Ratlosigkeit in seinem abgehärmten Gesicht zeigt. Text dazu (Seite 30): „… Im Schreckensbann der blauen Stunde vor Morgengrauen sitzt er hilflos auf dem Bettrand und wünscht, er wäre ein anderer oder tot.”
Das ist ein Stück Literatur, auch dank Wolfgang Hildesheimer! Und es ist ein grafisches Kunstwerk. Fast jedes Bild kennt nur die zentrale Figur von Melf in sparsamster Umgebung und grauschwarzer Dunkelheit. Das vermittelt eine seltsame Spannung und macht die Einsamkeit dieses grotesken Ronald Frederic Melf spürbar.
 
Nur diese beiden Werke sollen aus der großen Zahl der Veröffentlichungen von Edward Gorey vorgestellt werden. Liebhaber seiner Bücher werden einen Hinweis auf „Die Draisine von Untermattenwaag” (Diogenes Verlag Zürich 1962) ins Spiel bringen. Beide in der Übersetzung von Wolfgang Hildesheimer! Aber dafür ist kein Raum mehr – Maurice Sendak hat Anspruch auf „Gleichbehandlung”!
Mit diesem Namen verbindet man sofort ein Buch, das die Herzen aller Kinder erobert hat: „Wo die wilden Kerle wohnen” (Caldecott-Medal 1964, höchste Auszeichnung für Kinderbücher). Die Zahl seiner Publikationen ist fast unübersehbar.
 
Vieles hat er selbst geschrieben und bebildert, manches „nur” illustriert. Die von den Brüdern Grimm gesammelten Märchen haben durch seine
zeichnerische Prägung geradezu neue Lebendigkeit gewonnen. Wenn man seinen Stil als „altmeisterlich” qualifiziert, dann erfaßt das nur den hohen Grad seines grafischen Könnens. Es will ihn nicht in die Nähe der großen Illustratoren des 19. Jahrhunderts, z.B. Ludwig Richters, rücken und ihm eine „altmodische” Darstellungsweise zuschreiben (vgl. Kurt Flemig „Karikaturisten-Lexikon”, Verlag K.G. Saur, München 1993, S. 263). Sendaks Strichtechnik führt zu einer atmosphärisch verdichteten Ausdruckskunst, wie wir allenfalls noch bei Gustave Doré (1833 – 1883) beobachten können.
Seine Märchengestalten z.B. gewinnen dadurch eine in die Situationsstimmung eingebundene Plastizität, die unnachahmlich ist. Natürlich sind die meisten seiner Bücher in deutscher Sprache im Diogenes Verlag erschienen. In vielen Kinderzimmern finden sich beispielsweise „Herr Hase und das schöne Geschenk”, „Hühnersuppe mit Reis” oder „Der Greif und der jüngste der Domherren”. Sie alle wurden von Maurice Sendak auf das Schönste bildnerisch gestaltet.
 
Aber auch andere Verlage haben sich um Sendaks Werk bemüht. Eine besonders gelungene Einheit von Text und Bild scheint mir in „Zlateh die Geiß” von Isaac Bashevis Singer gefunden worden zu sein („dtv Junior” – Deutscher Taschenbuch Verlag München 1977). Wer auf dieses Buch trifft, sollte zuallererst die Seiten 32/33 aufschlagen -, und er erblickt den Teufel (Beschreibung S. 36 in „Großmutters Geschichte”). Der Eindruck wird unvergeßlich bleiben! Ich bin sicher, daß Maurice Sendak auf Dauer in der deutschen Bücherwelt präsent sein wird.
Auf ein Buch von einzigartiger Qualität muß ich unbedingt zu sprechen kommen. Ich weiß, daß es viele Menschen in Deutschland zärtlich lieben: „Higgelti Piggelti Pop!”
Schon dieser Titel – ein verführerischer Kinderreim! Maurice Sendak hat das Buch selbst geschrieben und die Bilder dazu gemacht. Publiziert wurde es in der deutschen Ausgabe 1969 im Diogenes Verlag, und die gelungene Übersetzung verdanken wir Hildegard Krahé. In dem Buch geht es um das Hündchen Jennie, es ist Jennie gewidmet, und man sagt, Maurice Sendak habe es zur Erinnerung an sein Hündchen geschrieben.
Also wieder einmal ein rührendes Hundebuch? Nein, das wäre zu kurz gegriffen! Es ist ein großes Geschenk eines großen Künstlers an die Menschen – ein wunderbares Märchen, das den Schatz an phantastischen Erzählungen, die uns beglücken und verzaubern, bereichtert.
 
Alle wichtigen Merkmale, die ein gutes Märchen ausmachen, sind vorhanden:
Zunächst eine liebenswerte Persönlichkeit, der „Held” der Geschichte. Dann der Aufbruch in die Welt der Abenteuer, die Begegnung mit dem Unerwarteten und dem Schrecklichen.
Seite 17: … Der Milchman hielt an, um Jennie zur Mitfahrt einzuladen. Er starrte auf die schwarze Ledertasche mit der goldenen Schnalle und sagte: „Du mußt auf dem Weg zu einem schauerlichen Ort sein.” „Natürlich”, sagte Jennie und leckte die Pfote …
Als Kinderfrau trotz eines „Zappelmagens” eingestellt, muß Jennie das ihr anvertraute Baby – ein gräßliches Kind! – zur Mutter nach Schloß Anderswo bringen. Aber ein hungeriger Löwe stellt sich in den Weg. Aus der Gefahr befreit ein Zauberwort – „Frau Hule” …
 
Was kann man mehr von einem Märchen verlangen?! Und es kommt noch schöner: Jennie wird als Schauspielerin beim Welttheater von Frau Hule eingestellt, und sie bekommt die Hauptrolle in „Higgelti Piggelti Pop!”
Das Buch schließt mit grotesk-schönen Szenenbildern, und dann folgt noch ein Brief an den früheren Herrn, der frei ist von Sentimentalität und dessen letzte Zeilen lauten: … Ich kann dir nicht sagen, wie man zum Schloß Anderswo kommt, weil ich nicht weiß, wo es liegt. Doch wenn du jemals hier vorbeikommst, besuch mich mal. 
                      
Jennie
 
Des Wunderbaren nicht genug, bewegt dieses Buch eine Frage, die uns in eine leise Unruhe versetzt. Der Buchtitel enthält nämlich noch die Ergänzung: „Es muß im Leben mehr als alles geben”.
Der Text beginnt so (Seite 9): „Einst hatte Jennie alles. Sie schlief auf einem runden Kissen im oberen und auf einem viereckigen Kissen im unteren Stockwerk. Sie hatte einen eigenen Kamm, eine Bürste, zwei verschiedene Pillenfläschchen, Augentropfen, Ohrentropfen, ein Thermometer und einen roten Wollpullover für kaltes Wetter. Sie hatte zwei Fenster zum Hinausschauen und zwei Schüsseln für ihr Futter. Und sie hatte einen Herrn, der sie liebte …”
Warum geht Jennie fort? Das fragt auch die Topfpflanze am Fenster, deren Blätter Jennie abknabbert.
 „Weil ich unzufrieden bin,” sagte Jennie und biß den Stengel mit der Blüte ab. „Ich wünsche mir etwas, was ich nicht habe. Es muß im Leben noch mehr als alles geben!”
Wünschen wir uns nicht alle etwas, was wir nicht haben. Treibt uns nicht immer wieder eine unbestimmte Sehnsucht an Orte, in Länder, wo alles neu ist und ganz anders. Woher rührt diese Unzufriedenheit mit dem, was wir haben? Warum genügt uns nicht der Besitzstand? Das rührt an existenzielle Grundfragen, und die Theologen, Philosophen, Psychologen etc. mögen sich mit Antwortversuchen plagen. Uns bleibt mit Jennie die Unruhe, die uns zur Suche antreibt, immer wieder den Aufbruch wagen läßt.

Gorey und Sendak, zwei große Künstler aus den USA, die Großes geleistet und den Reichtum der europäischen Kultur vermehrt haben.
 

Lesen Sie morgen an dieser Stelle Teil 2 von Joachim Klingers Essay.
Redaktion: Frank Becker