Über das Aufstehen

Der Abgrund zwischen Traum und Wirklichkeit

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Über das Aufstehen

Das allmorgendliche Aufstehen fällt schwer, weil man noch nicht wach ist. Es ist allerdings eine Tatsache, dass man nur deswegen ausschlafen will, weil man sonst immer vor der natürlichen Aufwachphase aus dem Schlaf gerissen wird. Erst die Pflicht des Müssens ermöglicht die Muße des Wol­lens. Es ist sonderbar, dass Frauen weniger Schwierigkei­ten mit dem Aufstehen haben, vielleicht, weil sie danach so lange das Bad belegen müssen, um im echten Leben genauso auszusehen wie in unseren Träumen. Frauen ken­nen den Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit genauer, weil sie sich vor dem Schminken im Spiegel ein­schätzen können. Männer wissen aber, dass das Leben nicht ein Traum sein kann, weil sie darin vorkommen. Manche Männer denken sogar, dass Träumen unmännlich ist und nur Kinder beruhigt. Ich bin einmal morgens ganz früh aufgestanden, um den Tag zu verplempern. Ich tat dies nur, um dem Gott der Wichtigkeit ein Schnippchen zu schla­gen. Abends bin ich davon sehr müde gewesen. Ich hörte einmal von einem Mann, der träumte, dass er aufgestan­den war, welches ihm übrigens auch im Traume nicht sehr leicht fiel. Er träumte also, dass er aufgestanden war, zu seiner ungeliebten Arbeit ging und dort einen anstrengen­den Tag verbrachte. Wie groß war seine Überraschung, als er tatsächlich wach wurde und auf seinen echten Wecker blickte. Er hatte im Traum umsonst gearbeitet und konnte dies noch nicht mal als Überstunden geltend machen. Da wurde ihm klar, dass zwischen Traum und Wirklichkeit ein Riesenabgrund klafft. Man muss es sagen, wie es ist: Es lohnt sich einfach nicht, etwas Sinnvolles zu träumen.


© Erwin Grosche - Aus: Warmduscher-Report - 2003 Ardey Verlag