Der Sinn des Lebens

von Hanns Dieter Hüsch

Hanns Dieter Hüsch -  © Paul Maaßen
Er kommt schon in die Welt
 
Er kommt schon in die Welt
Nur Geduld
Nur Geduld
Er kommt schon in die Welt
Der Sinn
Der Sinn des Lebens
Ich würde sagen
Eines Tages
Eines lichten Tages ist er da
An einem grünen Montag
Oder an einem himmelblauen Mittwoch
Oder aber an einem mattsilbernen Samstag
Was sage ich
Ein strohgelber Sonntag könnte es auch sein
Dann kommt er
Wir brauchen gar nicht so nervös mit den
Fußspitzen zu wippen
Der Sinn des Lebens kommt
Sagen wir
Sagen wir wie eine Libelle an einem dunkelbraunen Donnerstag
Um 14 Uhr
Nein
Zu früh
Nun
Dann vielleicht gegen 17.30 Uhr
Vielleicht aber auch in Gestalt eines Bettlers
Es kommt ja vieles heute in Gestalt
Oder in Gestalt eines armen Schusters
Oder in Gestalt eines weitgefahrenen Kapitäns
Mit weißem Bart
Gleichviel
Oder auch unsichtbar
Fällt mir gerade ein
Unsichtbar
Wie wäre es damit
Unsichtbar auf einmal steht es neben dir
Pardon
Steht er neben dir der Sinn des Lebens
Auf Zehenspitzen und gibt uns ein Zeichen
Vielleicht fällt eine Sammeltasse aus dem Schrank
Zerschellt am Boden
Nein das glaub ich nicht 
Das macht er nicht
Das wäre ja Leichtsinn Unsinn
Nein der Sinn des Lebens
Vielleicht
Flötet er uns was ins Ohr
Wie eine Lerche
Spielerisch tänzerisch duftig luftig
Tra la la
Nein
Der Sinn des Lebens
Was wollen wir lange um den heißen Brei schleichen
Kommt wie ein Löwe
Bildlich
Wie ein Löwe
Er kommt und sagt
Sie müssen sich das so vorstellen
Er kommt aus dem Flur um die Ecke direkt ins
Wohnzimmer und sagt
Bin ich hier richtig bei Lehmanns
Da aber vor lauter Angst niemand antwortet
Geht er wieder
Der Sinn des Lebens in Gestalt eines Löwen
Bildlich
Aber
Sollte das wirklich schon der Sinn sein
Ich kanns nicht ganz glauben
Kehren wir doch noch einmal mit \/erlaub zur
Libelle zurück
Die Libelle erscheint
Was hatten wir gesagt
Die Libelle erscheint an einem dunkelbraunen
Donnerstag gegen 17.30 Uhr
Die Libelle scheint mir nämlich das typische
Sinnbild zu sein
Raubinsekt
Jagt andere Insekten im Flug
Stürzt sich auf arme Seelen
Saugt sie aus und legt den Rest vor die Haustür
Des Nachbarn
Nein
Das wollen wir nicht
Einen solchen Sinn wollen wir nicht
Wir wollen einen anständigen Sinn einen richtigen Sinn
Einen anmutigen
Von mir aus auch einen aufopfernden Sinn
Also einen richtigen jetzt hab ichs einen sinnvollen Sinn
So sagt man ja auch immer
Man sagt doch immer
Das Ganze muß für mich einen Sinn haben
Oder
Ich kann das nicht gerade als sehr sinnvoll
Bezeichnen
Oder
Manche stecken ja auch in irgendeine Sache
Irgendeinen Sinn hinein
Damit eines Tages aus der Sache wieder ein Sinn
Herauskommt
Mal als Tiefsinn
Mal als Schwachsinn
Aber erst muß ja mal der Sinn zu uns kommen
Der Sinn des Lebens
Nur Geduld ,
Er kommt der Sinn
Er kommt
Ja wann
Ja wann
Ja das kann ich Ihnen leider nicht sagen
Vielleicht kann ichs Ihnen morgen sagen
Oder übermorgen
Oder vielleicht können Sie mirs sagen
Morgen oder übermorgen
Dann werden wirs alle wissen
Ganz bestimmt
Nur Geduld er kommt
Der Sinn
Entweder in Gestalt eines armen Schusters oder
In Gestalt
Eines weitgefahrenen Kapitäns
Jedenfalls
Sehn Sie mal
Ich würde sagen
Gute Nacht
 
 
Hanns Dieter Hüsch
1960
 
 
© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus "Hanns Dieter Hüsch" in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung
Das Foto stellte freundlicherweise Paul Maaßen zur Verfügung.