Von der kühnen Behauptung, gelesen zu haben und wie man sie durchhält

Pierre Bayard – „Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat“

von Frank Becker

To read or not to read…

Ich gebe offen zu, daß ich versucht war, über dieses Buch zu schreiben, ohne daß ich es gelesen hätte. Was hätte auch näher gelegen? Doch dann siegte a. die Neugier (man möchte ja doch wissen, wie Bayard das anstellt, was viele „Kulturmenschen“ täglich tun) und b. die Sorge, jemand aus meiner Leserschaft könnte Bayards Buch wirklich gelesen haben... - immer eingedenk der kategorischen Feststellung meines Literaturprofessors: „Jeder, der behauptet, Robert Musils ‛Mann ohne Eigenschaften’ und James Joyces ‛Ulysses’ ganz gelesen zu haben, ist in meinen Augen ein Lügner!“.

An den beiden oben genannten, an Prousts revolutionärem Werk ‛Auf der Suche nach der verlorenen Zeit’ und Umberto Ecos ‛Der Name der Rose’ macht Bayard dann auch den ersten Abschnitt Arten des Nichtlesens fest - und gibt dem Nichtleser auch gleich griffige Gesprächsinhalte für die nächste gebildete Konversation an die Hand. Eine Zeitverschwendung ist die Lektüre von Bayards Abhandlung schon deshalb gewiß nicht, weil man über „schwere“ Literaturen erfährt, was man sonst nie erfahren hätte. Das Fatale: man bekommt Lust, nun doch Musil oder Eco nicht nur quer, sondern vollständig zu lesen - aber da sei Gott vor!

Im folgenden Abschnitt Gesprächssituationen läßt Pierre Bayard am Beispiel Rollo Martin/Buck Dexter aus Graham Greenes ‛Der dritte Mann’ den Alptraum mit durchleben, den der Romanheld erfährt, als er unvorbereitet öffentlich über Literaturen Rede und Antwort stehen soll, die er zwar erwähnt, jedoch nie gelesen hat. Wie zieht man sich aus der Affäre, auch dem Lehrer, dem Autor oder dem/der Liebsten gegenüber? Fernseh-Wettermann Phil Connors aus dem Film „Groundhog Day“ von Harold Ramis gibt hier das Beispiel wie man es macht (oder besser nicht).

Zum Punkt kommt Bayard schließlich in Abschnitt drei, Empfohlene Haltungen. Wie reagiert man am besten im Augenblick der Wahrheit? Bayard hat vier entscheidende Grundsätze formuliert: 1. Sich nicht schämen, 2. Sich durchsetzen, 3. Bücher erfinden (an Sosekis „Ich der Kater“ 1905, erläutert) und  4. Von sich sprechen. Letzteres ist - mit dem Botschaftsträger Oscar Wilde (bitte in Fußnote 8, S. 201, bei der Neu-Auflage den Namen korrigieren!) beinahe zwangsläufig der passend witzige Abschluß, der einem solchen Buch gebührt. Pierre Bayards Ratschläge sind kaum weniger intelligent als die Behauptung Wildes, zehn Minuten genügten, um ein Buch kennenzulernen.

Eine empfehlenswerte Lektüre. Oder doch nicht?
Gibt es auch als Hörbuch und als E-Book.
 
Pierre Bayard – „Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat“
© 2007 Verlag Antje Kunstmann, 221 Seiten, geb. mit Schutzumschlag
16,90 €

Weitere Informationen unter: www.kunstmann.de