Freund Hein

Michael Zeller – „BruderTod“ - Ein Kinderleben

von Frank Becker

Keine Abrechnung, keine Bilanz
 
Kennen Sie das auch, daß Sie manchmal lange um ein Buch herumschleichen, zögern, mit der Lektüre zu beginnen, den durch den Klappentext bereits sichtbaren Faden aufzunehmen? Es mag verschiedene Gründe dafür geben - sei es, daß Sie sich an den Stoff seiner Größe wegen nicht herantrauen, sei es, daß Sie dem Thema oder dem Autor zu nahe sind und es scheuen, durch das Überschreiten einer Tabu-Grenze zu tief in dessen Fühlen einzudringen. So erging es mir mit Michael  Zellers jüngstem Buch, seiner literarischen Familienaufstellung „BruderTod – Ein Kinderleben“.

Der Tod ist eine so unerhörte numinose Größe, daß der Verstand, gibt er sich auch wissenschaftlich aufgeklärt, sich davor strecken muß. Größer noch ist das Scheitern vor dem Begreifen des zu frühen Todes eines vertrauten Menschen, zumal wenn dieser seinen Abschied selbst gewählt hat. Das nämlich hatte Michael Zellers älterer Bruder Hellmut im Januar 1957 getan, als 17-jähriger.
Schon der Umschlagentwurf des Buches schmerzt, zeigt auf grauem Grund das durchgerissene, nur flüchtig wieder zusammengelegte Foto eines offen lächelnden Knaben mit ordentlich gescheiteltem Haar. Am unteren Rand des Fotos eine handschriftliche Widmung aus dem Jahr 1950. Für den gewählten Buch-Titel hat Michael Zeller die beiden Worte, die ihn seit damals mehr als nur beschäftigen, die ihn verfolgen, bedrängen und umtreiben so zusammengeschoben, wie der Betrachter es gerne mit dem zerrissenen Foto täte: „BruderTod“. Michael Zeller spricht in seinem Buch über den Bruder, aber doch über sich. Über den Tod schreibt er, über den Freitod, schreibt gegen ihn an, der ihn seit dem selbst gezogenen Schlußstrich Hellmuts als ewiger Schatten begleitet.
 
Es ist weniger ein schriftstellerischer, denn ein seelischer Kraftakt. Als einfühlsamer Rechercheur geübt, hat Zeller sich in vielen seiner Romane bewiesen. Hier nun aber breitet er vor sich auf dem Tisch die Wirklichkeit aus: was von Hellmuts Leben aus dessen schmalem Nachlaß, vom im Krieg vermißten „Papi“, den er nie hat sehen dürfen, seiner spät aus dem Nebel der Geschichte freigelegten Breslauer Herkunft, von den nicht unbedingt harmonischen Erinnerungen an die dominante Mutter, von Zeitzeugen und historischen Dokumenten auf ihn übergekommen ist. Seine Leser läßt er an diesem intimen Puzzle seines Lebens teilnehmen. Ein mutiger Schritt. Ist es, auf der Schwelle zu seinem 70. Geburtstag, eine Bilanz? Eine Abrechnung? Wohl nicht. Es ist der Versuch einer Befreiung, getragen von dem Wunsch, auf der Suche nach der verlorenen Seele des Bruders die eigene von großem Druck zu befreien. Das „Warum“ über Hellmut Zellers Freitod bleibt letztlich unbeantwortet. Der entscheidende Schlußstein muß trotz aller Mühen verloren gegeben sein.
 
Es kann Michael Zeller, dessen jahrzehntelange Qual man aus jeder Seite, jeder Zeile liest, nicht leicht gefallen sein, dieses Buch zu schreiben, zu viele Wunden schlägt es neu, zu wenig Trost war auf dem dornigen Weg der Suche nach Spuren und Antworten wirklich zu finden, hat er auch einige wertvolle Menschen dabei getroffen, die ihm wohltaten. Daß er aber auch auf die Schicksale vieler anderer seines persönlichen Umfeldes, bzw. dem Hellmuts gestoßen ist, die sich selbst das Leben nahmen, hat es gewiß nicht leichter gemacht. Das auf der Rückseite des Buches wiedergegebene Zitat spricht für sich: „Jeder Selbstmord ist mir, soweit ich das behaupten darf, ein vertrautes Erleben. Brüderlich nah. Selbstmörder sind meine Brüder, alle.“
 
Licht ins Dunkel des letzten Geheimnisses eines Menschen zu bringen, endgültig mit dessen Tod ins Reine zu kommen, kann wohl nicht gelingen. Denn: du rechnest nicht mit dem Tod ab. Er tut das zu gegebener Zeit - mit dir. Ich bin fast sicher, Michael Zeller hätte seinem einen Hauch von Frank Wedekinds Frühlings Erwachen tragenden, bewegenden Buch auch den Titel „Freund Hein“ gegeben, wäre der nicht schon von Emil Strauß besetzt gewesen.
 
Michael Zeller – „Bruder Tod - Ein Kinderleben“
© 2014 Universitätsverlag Brockmeyer, 142 Seiten, Klappenbroschur – ISBN 978-3-8196-0971-8
14,90
 
Weitere Informationen:  www.michael-zeller.de  -  www.brockmeyer-online.de/