„Rime of the Ancient Mariner“

Tiger Lillies und der Bildzauberer Mark Holthusen begeisterten in Düsseldorf

von Andreas Rehnolt

Die Tiger Lillies und der Bildzauberer Mark Holthusen
begeisterten in Düsseldorf
 
Beim Düsseldorf-Festival hatte ihre Fassung der gruseligen britischen Ballade
„Rime of the Ancient Mariner“ (Ballade vom alten Seemann)“
am vergangenen Montag bejubelte Deutschlandpremiere
 
Von Andreas Rehnolt
 
Düsseldorf - Die Bühne im Theaterzelt auf dem Burgplatz im Zentrum der Düsseldorfer Altstadt erinnerte am Montagabend an eine alte Jahrmarkt-Bude oder an ein Papiertheater. Aber was da wenige Minuten später auf dieser Bühne abgeht, ist alles andere als Jahrmarkt oder Papiertheater. Die britische Kultgruppe The Tiger Lillies macht Musik und singt. Angezogen sind sie wie Hafenarbeiter vor 200 Jahren, schmutzig sehen sie aus mit ihren geschminkten Gesichtern, gerade so, als ob sie aus der Hafenspelunke gekommen waren, die plötzlich - ohne jede Requisite um sie herum vorhanden ist. Während Martyn Jacques in höchsten Tönen singt und das Akkordeon quält, klagt die singende Säge von Adrian Stout und es wummert leise das Schlagzeug von Mike Pickering.
 
Und schon ist man drin. In dieser „Rime of the Ancient Mariner“, der „Ballade vom alten Seemann“, die 1798 vom britischen Dichter Samuel Taylor Coleridge verfaßt wurde. Da saufen und prügeln sich mit Video und Fotografie auf zahlreiche unsichtbare und zumeist durchsichtige Leinwände geworfen, betrunkene Matrosen mit Hafenarbeitern und Huren. Die unheimlich klagende Säge erinnert an alte Edgar Wallace-Streifen. Hinter den real auf der Bühne mitten im Kneipenszenario agierenden Musikern bewegt sich ein Dreimaster, die Sonne steht am Himmel. Dann ziehen Wolken auf, Sturm und der Mond hängt am Horizont. Plötzlich ist alles unter Wasser, die Mannschaft ist auf dem Segler, Blitze zucken.
Ein Vogel taucht unvermittelt auf, keine Möwe. Dafür ist er zu groß. Die Form des Schnabels weist ihn als einen Albatros aus. Den Seeleuten ist kalt, immer mehr Eisschollen umtreiben das Schiff. Dann Eisberge und man beginnt zu frösteln. Der Seemann, vermutlich der Kapitän erscheint an Deck, man sieht, wie er einem Jungen den Befehl gibt das Deck zu säubern. „Happy Boy“ singt Martyn Jacques dazu. Doch der Juge wird geprügelt, getreten. Fokussiert durch einen Lichtkegel sieht man wie durch ein Fernrohr, die brutale Szene, die nach einer Verfolgung auf Deck mit der Vergewaltigung des Jungen endet. Harter Tobak, gewiß, doch auch dafür stehen die Tiger Lillies. Fast fühlt man sich in dieser Szene an Murnaus Stummfilm „Nosferatu“ erinnert. 
 
Dann fällt Schnee und die Eisschollen werden immer dichter. Ein Meeresgott taucht samt  Dreizack aus den Fluten der Arktis - oder ist er etwa Käpt'n Barbossa auch dem „Fluch der Karibik“? Das reale Trio auf der Bühne im vollbesetzten Theaterzelt singt dazu den Song „Frozen Wind“ und dann den Song des Abends für den Helden „Albatros“. Denn dieser Vogel führt die Seeleute aus dem Eis heraus und sie verehren ihn dafür. Doch der Kapitän schießt mit seiner Armbrust auf den Vogel und tötet ihn. „Albatros, Albatros“, wie ein Stakkato kommt der Gesang, das Akkordeon stöhnt, der Kontrabaß ächzt und die singende Säge heult, als der Vogel ins Meer stürzt.
Von nun an gehts bergab mit dem Schiff, der Mannschaft und mit dem Skipper. Es scheint, daß das Meer den toten Vogel rächen will. Kein Wind, keine Welle, kein Trinkwasser und kein Land in Sicht. „Water, Water Everywhere“ singen die Tiger Lillies und man muß unwillkürlich an die vielen tausend Flüchtlinge denken, die von Afrika aus den Weg über das Mittelmeer nach Europa in ein besseres Leben versuchen. Dann meutert die Mannschaft, macht den Kapitän für die Flaute verantwortlich und setzt ihm den toten Albatros als Hutersatz auf den Kopf. Und ein zweites Schiff erscheint. Ein Totenschiff. Der Tod und der Tod im Leben würfeln um die Besatzung. Der Tod nimmt sich die Mannschaft, der Tod im Leben nimmt sich den Albatros-Mörder. Der passende Song zu dieser Szene ist natürlich „Dead Ship Ahoy“. 
 
Aus dem Meer erhebt sich ein Palast, Meerjungfrauen spielen mit dem Kapitän, der fliegen und tauchen kann, wie ein Vogel oder Fisch. Dann ändert sich die Szene und Türme aus Totenschädeln brennen, alles ist Feuer, alles Flamme und man sieht Gestalten in diesem Höllenszenario, wie sie sich martern und quälen. „Murder Go To Hell“ dröhnt es dazu von der Band, die mit ihrem „Brechtian Punk Cabaret“ einer exzentrischen Mischung aus komödiantischem Varieté, melancholischer Anarchie und balladeskem Pop berühmt ist.
Das Tempo wird auf "langsam" zurückgefahren, eine Art Unterwasserwelt tut sich auf, der Kapitän kann endlich den toten Albatros abschütteln, erkennt, daß er grausam war und der Fluch, ein Untoter zu sein fällt von ihm ab. In der Zugabeszene dann aber wird klar, daß es in dieser Fassung der düsteren Ballade kein Happyend geben wird, wie im Original des Dichters. Denn aus einem weit aufgerissenen Fischmaul quillt die Hölle erneut hervor und setzt alles in Flammen, alles in Brand. Und der Abschiedssong heißt natürlich passend-grauslich: „Living Hell“.
Insgesamt ein 90-minütiger Augen- und Ohrenschmaus, der mit minutenlangen Standing Ovations gefeiert wurde. Das faszinierende fotografisch und filmisch erzeugte Bühnenbild stammt von dem aus San Francisco stammenden Künstler, Fotograf und Regisseur Mark Holthusen, der hier eine überbordende Bilderwelt kreiert hat, die nicht nur in den Szenen des Fegefeuers an die Höllenszenen des mittelalterlichen Malers Pieter Brueghel erinnerte. Schade, daß die Tiger Lillies nur den einen Abend beim Düsseldorf Festival waren. Man könnte süchtig werden.
 
 
Redaktion: Frank Becker