20. September

Ein Kalenderblatt

von Michael Zeller

20. September
Ein Kalenderblatt
 
Warum er so tief hinab gesunken ist in mir, dieser 20. September, genauer: der venti settembre? Kein Mal verpasse ich den Tag, wenn er sich jährt, seit mehr als vierzig Jahren mittlerweile. Ich kann es selbst schwer erklären.
 
Auch heute ist wieder so ein zwanzigster September. Ich schaue aus meinem Fenster, im heimischen Wuppertal. Über dem Schreibtisch: Ja, das ist der Herbst. Wieder mal. Dem Laub der Bäume geht die Puste aus, nach und nach. Erdfarben mischen sich in das Grüne, drängen es langsam heraus: Braun, Ocker, Gelb, kostbares Rot. Die Palette des Herbstes ist die farbenreichste aller vier Jahreszeiten. Bunt trägt die Melancholie des Abschieds.
 
War es damals auch Herbst, 1970, in Rom? Ein mittelmeerischer Sommerabend lag auf der Stadt, warm und schwarz, als ich von Süden in Rom einfuhr, aus Neapel kommend. Wie immer in diesen Jahren reiste ich mit wechselnden Chauffeuren. Ich war per Anhalter unterwegs.
 
Ausgeladen wurde ich an der Porta Pia, einem alten Stadttor. Tausende kleiner Flämmchen illuminierten seine schwere, urzeitliche Architektur, waren über das ganze mächtige Gebäude gestreut. Über dem Flackern der Wachsleuchten stand, in großem Schweigen, das Dunkel des Südens – die römische Nacht.
 
Was war da los? Ein Volksfest? Hatte irgendein Heiliger heute seinen Namenstag? Keine Ahnung. Ich genoß das Bild dieses flammenden Tores, stieg in den Bus und fuhr, hungrig wie ich war, ins Zentrum. Dort empfing mich das gleiche Szenario.
 
Das Vittoreano, der „Altar des Vaterlandes“, schräges Herz von Rom in Gestalt einer Riesenschreibmaschine. Auch das Vittoreano glühte auf vor mir. Endlos viele Flämmchen zuckten und zitterten auf dem Kasten und verzauberten ihn ins Elfenhaft-Unwirkliche. Die plumpe Materialität des Steins war verdampft, zerstäubt in zarteste Lichtgirlanden, hineingehängt ins schiere Schwarz der Nacht. Mein Auge begriff nichts, schaute bloß. Das schiere Glück rieselte mir über den Rücken.  
Natürlich wollte ich es am nächsten Morgen wissen. Ein nationaler Feiertag, sagte man mir, sei gestern gewesen, der wichtigste des modernen Italien: der venti settembre. Die Augenbrauen der Befragten gingen hoch dabei.
 
Zum hundertsten Mal hatte sich gestern der Tag gejährt, da Garibaldis Truppen mit ihren bunten Federhelmen in Rom einzogen und damit den symbolisch bedeutsamen Schlußstein auf die Einigung Italiens zum Nationalstaat setzten. Die Hauptstadt! Daß Garibaldi Rom am 20.September 1870 durch eben die Porta Pia betreten hatte wie ich gestern Abend, genau ein Jahrhundert danach – er hoch zu Roß, ich mit dem Rucksack des Anhalters: das hielt ich in der Selbstherrlichkeit der Jugend  für ein Augenzwinkern der Geschichte. War das nicht angemessen?
 
O göttlicher Größenwahn der Jugend! Am grellsten strahlt er auf den Trümmern von Jahrhunderten. Dann mag ein solcher Augenblick für ein ganzes Leben vorhalten.
 
Dieser venti settembre von 1970 gilt bis heute noch, auch auf dem herbstlichen Ölberg von Wuppertal.



© 2014 Michael Zeller
Exklusiv-Veröffentlichung in den Musenblättern