Über die Würde des Alterns

Dimitri Verhulst – „Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau“

von Jürgen Kasten

Über die Würde des Alterns
 
Dimitri Verhulst, 1972 geboren, gilt als einer der besten flämischen Schriftsteller, sagt der Verlag. Und so schrieb ich es auch vor einiger Zeit bei meiner ersten Buchbesprechung dieses Autors („Die letzte Liebe meiner Mutter“). Es war lustig, satirisch, exzellent geschrieben, ein perfekter Unterhaltungsroman. Das gilt auch für das hier vorliegende Buch. Bei allem Spaß, den Verhulst wiederum verbreitet, schlägt er aber auch ernste Töne an, denn es geht um Demenz und Pflegeeinrichtungen, in denen die kranken alten Leute ihren Lebensabend verbringen, verbringen müssen.
Der 74jährige Protagonist der Geschichte, Désiré, ehemaliger Bibliothekar, unterzieht sich freiwillig diesem Anstaltsleben. Er ist nicht krank, völlig fit im Kopf, hält aber seine ständig nörgelnde, nervige und alles bestimmende Frau nicht mehr aus. Eine Scheidung wäre einfacher gewesen. Désiré jedoch zieht eine gespielte Demenzerkrankung vor, kann ohne Probleme sogar den medizinischen Dienst überzeugen und wird in einem Pflegeheim aufgenommen. Sein Krankheitsbild glaubhaft darzustellen, fällt ihm nicht schwer. Er muß auch nicht mehr im Pyjama und Pantoffeln durch die Stadt irren, um den Verwirrten zu spielen. Es genügt, sich in das Wartehäuschen der Bushaltestelle zu setzen und auf den Siebenundsiebziger zu warten, der nie kommt. Das Häuschen steht im Park der Anstalt, weit ab jedweder echter Buslinie. So wissen die Pfleger immer, wo sie ihre Ausreißer einsammeln können.
Manchmal übertreibt Désiré seine Verwirrtheit. Das stürzt seine Frau in Verzweiflung, was ihn wiederum freut. Ganz unerfreulich ist jedoch für ihn, daß seine Kinder sich von ihm abwenden. Er kann aber nicht mehr aus seiner Rolle ausbrechen, kann, darf ihnen nicht vermitteln, daß er sie sehr wohl erkennt und daß es ihn berührt, wie ernsthaft und offen sie jetzt mit ihm sprechen, jetzt, da er sie vermeintlich nicht mehr versteht. Er hat es so gewollt, nichts ist zurücknehmbar, der lange, einsame Lebensabend beginnt.
 
Zum Brüllen komisch, zum Heulen traurig. Dimitri Verhulst spielt alle Facetten seines schriftstellerischen Könnens aus. Bedenkt man, daß er selber erst Mitte Vierzig ist, dann ist es schon erstaunlich, ein solches Buch über die Würde des Alterns hinzubekommen, das belustigen soll, ohne die Ernsthaftigkeit des Themas ins Lächerliche zu ziehen. Verhulst ist dies ohne Abstriche gelungen, das Buch uneingeschränkt empfehlenswert.
 
Dimitri Verhulst – „Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau“
Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten
© 2014 Luchterhand Literaturverlag, München, Klappenbroschur, 143 Seiten - ISBN: 978-3-630-87432-6
€ 12,99 (D), € 13,40 (A)
 
Weitere Information: www.luchterhand-verlag.de