Rhein und wahr

Aus dem Tagebuch

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Nervig

1. Juni: Die Kanzlerin. Der Mann war so beliebt, daß er ein Reservierungsbuch für Gäste ausliegen mußte. Ich durfte ihn kurz am Dienstag küssen. Um 12:00 Uhr kam schon die Kanzlerin.
 
5. Juni: Über die Echolalie (Über das zwanghafte Wiederholen der Worte des Gesprächspartners). Er hat ihr gesagt, daß es ihn nerven würde, wenn sie immer alles wiederholen würde, was er gerade gesagt hat. Da hat sie ihm geantwortet, daß es gar nicht nerven würde, wenn sie alles wiederholen würde, was er gerade gesagt hat. „Doch“, hat er gesagt. „Das stimmt. Es nervt total, wenn Du alles wiederholst, was ich gerade gesagt habe.“ „Nein“, hat sie da gesagt. „Das stimmt gar nicht. Es nervt nicht, wenn ich alles wiederhole, was Du gerade gesagt hast.“ Da schwieg er einfach und sie schwieg dann auch. Nervig.
 
7. Juni: Seufzen. Das Wort Seufzen sieht so aus, wie man sich fühlt, wenn man allein auf der Welt ist. Liest man es, spürt man den Ton, den ein Kind ausstößt, wenn es so traurig ist wie ein gestrandeter Wal. Das Niederlassen auf ein altes Sofa wird begleitet von einem Seufzen. Seufzen ist der Schmerzlaut, den nur Fledermäuse wahrnehmen und dabei schnell das Weite suchen. Wer will schon den Traurigen zuhören, wenn sie seufzen? Liest man das Wort Seufzen laut, denkt man sofort an einen stoppenden Reifen. Ich habe dabei den Jungen vor Augen, der trotz Sprachfehler Schillers „Glocke“ rezitieren muß. Ein Seufzer wird geboren. Seufzen ist der Klagelaut vor dem Stöhnen. Ein Anfang. Der Schmerzensklang, der einem Lispler entfährt, wenn er das Wort lispeln sagen muß. Das Betonen der Buchstaben f und z läßt die Lippen spitzen und sieht aus, als wäre man beim Kußversuch abgewiesen worden. Seufzen klingt nach laufender Nase und fehlendem Taschentuch. „Es seufzte. Es ließ seinen Schmerz heraus. Der Klang beklagte seinen Zustand. Das Geseufze macht sich breit.“ Ein Dreitagesschmerz klingt so. Udo klingt so. Keiner hielt es für nötig ihn zu trösten. Nur das Kaninchen verstand ihn. Es seufzte so laut, daß sich Gott sehen ließ. Was macht Udo gerade? Er seufzt herum.
 

© 2014 Erwin Grosche für die Musenblätter
Redaktion: Frank Becker