Der Künstler und sein Werk

von Karl Otto Mühl

Der Künstler und sein Werk
 
Man kennt den Ausruf von Archimedes in der Badewanne. Oder den befriedigten Gesichtsausdruck der Hausfrau, wenn sie ein Bündel Spargel geschält hat und es in ein nasses Tuch wickelt. Seltener beobachtet wird das Aufleuchten in den Augen des Pastors, wenn er einen Einfall zu seiner nächsten Predigt hat.  
 Solche Augenblicke im kreativen Wirken des menschlichen Geistes haben sämtlich Parallelen im Wirken des künstlerischen Menschen, der, wie manche sagen, in seiner Kunst schon göttliche Qualität erreichen kann, und dabei denken sie an Genies wie Beethoven und Mozart.
Und natürlich an Dichter. Ich kenne einen und weiß daher, wie diese Prozesse in ihm ablaufen.
 
Zuerst kommt die Idee. Sie kommt zwar unerwartet, aber doch nicht unvorbereitet: so wie der Kinderwunsch in einer jungen Frau schwelt oder der Wunsch nach einer Bundesgenossin im Herzen eines Mannes. Sie ist verschwistert mit den tiefliegenden Elementen in der Seele des Mannes von Kindheit an. Sie strahlt ihn an wie eine Liebende, die Idee.
Wie eine Liebende allein durch ihr Vorhandensein beweist, daß es keine Probleme gibt oder daß sie durch sie alle schon gelöste sind, so erglänzt  die Idee in Vollkommenheit.
 
Der Künstler macht sich ans Werk.
 
Er arbeitet mit fliegender Feder oder klappernder Tastatur, rasch, fiebernd, oder minutiös, pedantisch, aber mit durchgedrücktem Rückgrat. Wie auch immer, die erste Fassung entsteht.
Schon gegen Ende  der Arbeit verspürt der Künstler Unbehagen. Manches ist zu schwach geraten, zu blaß, manches dient nicht dem Fortschreiten der inneren Handlung, manches hat nicht die globalen Bezüge, die für einen Welterfolg erforderlich sind.
Aber Rettung naht. Jetzt sieht er genau, was fehlt, was weg muß, wo mehr „Mark und Nachdruck“ hingehören. Der Künstler atmet befreit auf, streicht Textstellen oder schlägt auf den Gipskörper ein, schafft Ersatz in Tönen, Wörtern oder Ton. Seine Augen leuchten, er lehnt sich zurück.
 
Er pausiert für Tage  oder Wochen. Dann wendet er sich wieder dem Werk zu. Er stellt fest, daß es ihm Unbehagen bereitet. Er beginnt es zu hassen. Es ist immer noch nicht vollkommen, verspricht immer noch keinen Welterfolg. Er haßt auch den Menschen, der dieses Werk geschaffen hat. Ihn zu verachten und abzulehnen, ist die einzige Rettung für das grandiose Ich.
Nun ist der Künstler fürs erste gerettet.  Er verachtet den Übelzwerg, der dieses Werk geschaffen hat, er ist ja größer und weiser als dieser.
Jetzt gilt es, sich von diesem Machwerk zu befreien. Der Künstler nähert sich kalten Blutes dem verhaßten Objekt, legt es vor sich auf den Tisch wie einen  toten Fisch, schneidet ihm Kopf und Schwanz ab, schlitzt es auf, und füllt es, manchmal sogar mit Marmelade.
 
Danach begibt er sich auf lange Spaziergänge und grübelt, ob er es im schlimmsten Falle unter fremdem Namen ausbieten soll.


© 2014 Karl Otto Mühl
Erstveröffentlichung in den Musenblättern
Redaktion: Frank Becker