„Blauäugig“

von Heinz Rölleke

Foto © Frank Becker


„Blauäugig“
 
Von Heinz Rölleke
 

„Dein blaues Auge hält so still,
Ich blicke bis zum Grund.
Du fragst mich, was ich sehen will?
Ich sehe mich gesund.“

 

Klaus Groth hat es 1854 gedichtet und dabei erkennbar auf Christoph Martin Wielands Verserzählung „Der neue Amadis“ von 1771 rekurriert, denn dort liest man vom Gesundsehen auf dem Grund der Augen eines Mädchens:
 
„Vermuthlich taugen dazu
Die braunen und die schwarzen Augen so gut nicht wie die blauen
(…)
Ihr offnes blaues Aug', voll sicherm Selbstvertrauen,
Erlaubt bis auf den Grund zu schauen.“
 
Groths Verse hat kein geringerer als Johannes Brahms in seinem opus 39 (Nr. 8) wunderbar einfühlsam vertont, und jeder Hörer weiß, was gemeint ist, zumal die zweite Strophe an die schmerzlichen Erfahrungen des Sängers mit einem glühenden Augenpaar erinnert, von denen er bei den klaren und kühlen Augen der jetzt Verehrten Heilung erhofft. Im 19. Jahrhundert sollte dieses Identifikationsangebot an blauäugige Hörerinnen seinen Zweck erreicht haben; fraglich, ob sich heute wer geschmeichelt fühlt, wenn die heilende Kühle seiner klaren blauen Augen gepriesen wird, nur um die Erinnerung an ein dunkles Augenpaar zu verdrängen, das zwar irritierend, aber allemal auch interessanter gewirkt zu haben scheint.
Auch der seinerzeit populäre Dichter Friedrich von Bodenstedt konnte mit seinem intendierten höchsten Lob der Blauäugigkeit auf inniges Verständnis rechnen:
 
„Ein graues Auge - ein schlaues Auge;
Auf schelmische Launen deuten die Braunen;
Des Auges Bläue leuchtet Treue.“
 
Heute mag das etwas seltsam wirken. Es hat offenbar nichts mit ästhetischem Geschmackswandel, wohl aber mit veränderten Wertvorstellungen zu tun, daß gemeinhin ein glühendes Liebeserlebnis einer kühlen Verbindung vorgezogen wird, daß die Schlauheit einer Grauäugigen, die Lebenslust der Braunäugigen heute gegenüber dem treuen blauäugigen Leuchten an Wertschätzung gewonnen haben. Um das verstehen zu können, muß man sich erinnern, daß die Farbe blau stets Sinnbild der Treue war. Ein blaues Auge ist also in erster Linie unverstellt, es hat nichts zu verbergen, es ist durchsichtig bis ins Innere. Solche Vorstellungen mögen auch durch die Tatsache begünstigt worden sein, daß Neugeborene bei uns bekanntlich zunächst immer blaue Augen mit auf die Welt bringen - eine Blauäugigkeit, die wahrlich nichts zu verbergen, aber tatsächlich auch noch nichts besehen hat. Da man geneigt war, die Blauäugigkeit vornehmlich der germanischen Menschenrasse zuzuschreiben, konnten sich entsprechende Urteile mit Nationalstolz verbinden, sich zum gepriesenen Ideal steigern, zur Definition und Anpreisung einer Herrenrasse und ihrer physiognomischen Merkmale pervertieren. Thomas Mann hat das bereits 1903 in seinem „Tonio Kröger“ erfaßt und wohlwollend ironisiert, wenn er von den zwar liebenswerten, aber vor allem auch geistlosen Vertretern dieser blonden und blauäugigen Normalität spricht. Noch früher hatten zeitkritische Geister den blauäugigen deutschen Michel mit seiner leicht zur Schlafmütze umzudeutenden Zipfelhaube entsprechend verspottet: Wer sich so viel auf seine Treue, seine Arglosigkeit, seine Unverstelltheit einbildet, wirkt oder ist gar auch immer ein bißchen naiv, unerfahren, ungeschickt - treudoof. Das aber sind Eigenschaften, die besonders auf dem Feld der Politik, der Wirtschaft und neuerdings etwa auch des Sports als keineswegs erstrebenswert, vielmehr als bedenklich gelten. Und so ist denn seit wenigen Jahren das Wort „blauäugig“, wenn es nicht einfach einen äußerlichen Sachverhalt beschreibt, sondern im übertragenen Sinn gebraucht wird, zum gelinden und zwar spöttisch-herablassenden Tadel geworden, was der Duden erst seit 1976 kommentarlos verzeichnet. Politische Blauäugigkeit, blauäugiges Argumentieren mag sich etwa im Bundestag niemand gern testieren lassen, ob man nun blaue Augen hat oder nicht. Man fühlt sich dann im unzukömmlichen Bereich als „vertrauensselig“ beschimpft - ein Begriff, der früher auch einmal uneingeschränkt positiv gebraucht, inzwischen aber mehr und mehr zum Tadel geworden ist. Und diese Parallele öffnet die Augen für eine ganze Reihe ähnlicher Bedeutungsentwicklungen besonders seit dem l9. Jahrhundert. Man kann fast von einem Strudel der Pejorisierung im Adjektivbereich gerade entsprechender Wertvorstellungen sprechen: Harmlos, gutgläubig, unschuldig, bieder, bürgerlich sind nur einige Beispiele dieser zunächst immer latenten, zum Teil noch unabgeschlossenen und nicht bewußt gewordenen Entwicklung. Bei „albern“ oder „einfältig“ ist sie hingegen längst perfekt; der „al-wâri“ (der immer und in allem Wahrhaftige) und der nur eine Falte vorweisende Mensch (der keine Winkelzüge kennt, nichts zu verbergen hat) wurden früher einmal mit Lob bedacht und gelten heute als ausgemachte Toren.

Die Gegenbewegung ist weniger ausgeprägt, bestätigt aber ihrerseits solch bedenkliche Wertungsänderungen. Ein Schlitzohr war früher der durch einen entsprechenden Schnitt kenntlich gemachte Verbrecher, der auch Schalk oder Schelm hieß. Schelmisch, schalkhaft, schlitzohrig - wer möchte heutzutage nicht zumindest zuweilen so sein, so agieren können, mit solchen Vokabeln gelobt werden? Diese Entwicklungen sind natürlich nicht der Sprache als solcher anzulasten, die nur aufs feinste und unbestechlichste geistes- und gesellschaftsgeschichtliche Wandlungen registriert und zum Ausdruck bringt. Es wäre also unsinnig, ja geradezu die sprachliche Klarheit verfälschend, derartige sprachliche Befunde zu ignorieren oder zu bekämpfen. Wichtiger ist, sie zu durchschauen und in größere Zusammenhänge einzuordnen. Damit wäre ein wenig zur Selbstaufklärung der gegenwärtigen Situation beizutragen. Die Sprache hat solche Entwicklungen noch allemal ohne Dauerschäden überstanden - und die wirklich Blauäugigen werden diese neuerliche Tendenz auch überleben. 
 
 
 
© 1983 Heinz Rölleke