Siena

Der italienische Sinn für Plätze

von Konrad Beikircher

Siena, Piazza del Campo - Foto © Matthias Brinker / pixelio.de

Siena
 
Seit ich im Rheinland lebe, frage ich mich immer, wo er beim Überqueren der Alpen denn geblieben ist: der Sinn für Plätze, für Raum, für ein Ensemble, für gestalterische Zusammenhänge, kurz: der Sinn für eine schöne Stadt. Ich gehe durch Köln und angesichts des Kölner Doms stolpere ich über ein Verbrechen wie die Nord-Süd-Fahrt, ich fahre mit dem Zug aus Düsseldorf raus Richtung Duisburg und schaue mitten in Düsseldorf auf ein Riesenareal, das aussieht, als hätten wir Sommer 1945 und die Amis sind mal eben Zigarettenpause machen, nachdem sie ein bißchen Rheinland plattgemacht haben, ich gehe durch Bonn auf der Suche nach dem Mehlemschen Haus und entdecke es zerquetscht von den Ausläufern der Kennedy-Brücke ein geducktes Hundehütten-Leben führen. Braucht es denn die mediterrane Sonne, um sich zu getrauen, einen Platz zu gestalten? Braucht es italienisch, um einen Springbrunnen plätschern zu lassen? Kann man nicht auch wenn man deutsch spricht, mit einem Platz zeigen, daß man zusammengehört? Hier, in dieser Stadt, in diesem Land? Warum sollen nur die Italiener Lust haben, Italiener zu sein und das zu zeigen, warum nicht auch wir? Warum haben wir keine Grundstücksbesitzer, die, zusammen mit anderen, auf ein paar Meter verzichten, um an einer Ecke Luft zu schaffen, den Menschen eine Erholung zu bieten, dem Auge Raum zu gönnen und alles das nur, damit man sagen kann: ist es nicht schön, unser Bonn, unser Köln, unser Düsseldorf? Was hat unsere Stadtoberen – besonders im Rheinland, leider – daran gehindert, Plätze zu schaffen, einfach mal ein paar Blocks nicht bauen zu lassen? Angst vor der Versammlungsfreiheit? Natürlich sind Plätze dazu da, daß man sich auf ihnen versammeln kann, aber ist das nur toll, wenn es woanders passiert? Solche Plätze sind, zu Recht, legendär geworden: der Wenzelsplatz, der Petersplatz, der Platz des himmlischen Friedens, der Tahrir-Platz, um nur einige zu nennen. Brunnen machen Städte schön, Treppen schmücken sie, aber Plätze machen Städte erst zur Stadt. War in der Antike der Platz noch die Agora, auf der man sich traf und damit war die Funktion, mehr oder weniger, auch schon erschöpft, oder sie war der Truppenversammlungsplatz, mit dem die Römer ihren Feinden zeigen konnten, wie viele sie sind und daß es da ja wohl keinen Zweck habe, Widerstand zu leisten, hat die Renaissance in Italien dem Platz eine heitere Funktion gegeben: er ist in der Zeit, die den Menschen entdeckte und damit sich aus der Knechtschaft der Kirche befreite, zur säkularen Kathedrale geworden. Der Platz steht jedem offen, er ist das Symbol für die Zusammengehörigkeit einer Stadtgemeinschaft. Jeder ist Sienese, der in Siena wohnt, egal, ob er Christ ist, Jude, Moslem oder Anhänger von Savonarola. Er ist Sienese, er zeigt sich auf der Piazza del Campo, er trifft sich auf der Piazza del Campo, er demonstriert auf der Piazza del Campo, er jubelt auf der Piazza del Campo. Wo ist die Piazza del Campo in Köln, in Bonn, in Düsseldorf? Warum sind so viele wunderbare Errungenschaften einfach jenseits der Alpen geblieben? Oder sollte ich lieber sagen: diesseits? Das würde voraussetzen, daß ich zurück ginge. Ist ein Platz so wichtig? Ich meine: bin ich Sienese? Ich hab ihn im Kopf, ihn und andere Plätze, in meiner kleinen Sammlung von großen Plätzen dieser Welt, und das langt mir – im Moment.
 
In diesem Sinne
Ihr
Konrad Beikircher
 

©  2014 Konrad Beikircher für die Musenblätter
Redaktion: Frank Becker