Die künstlerische Revolution
des Kasimir Malewitsch (2) Große Retrospektive in der Bonner Bundeskunsthalle Durchbruch zur Gegenstandslosigkeit
Nach Jahren des Suchens und Experimentierens gelang dem Künstler Ende 1913 der Durchbruch zur gegenstandslosen Kunst, zum Suprematismus, mit dem sich Malewitsch an die Spitze der russischen Avantgarde setzte. Im Dezember 1913 fand in Sankt Petersburg die Uraufführung der futuristischen Oper Sieg über die Sonne statt, ein avantgardistisches Singspiel, für das Kasimir Malewitsch die Kostüme und die Bühnenbilder entwarf, u.a. ein diagonal in eine schwarze und eine weiße Fläche gegliedertes Quadrat – sein erstes „suprematistisches“ Werk.
Damit schlug der Künstler ein neues Kapitel auf, nämlich das der Gegenstandslosigkeit. Drei Bilder stehen am Anfang dieser neuen Phase, nämlich das „Schwarze Quadrat“, der „Schwarze Kreis“ und das „Schwarze Kreuz“. Ihre Datierung ist unsicher. Erstmals öffentlich gezeigt wurden Malewitschs frühe suprematistische Arbeiten im Dezember 1915, und zwar in der zweiten Ausstellung der Futuristen in Petrograd (seit Kriegsbeginn der neue Name für Sankt. Petersburg), die den Titel „Letzte futuristische Ausstellung – 0,10“ trug. Ziel war es, wie Malewitsch selbst formuliert hat, ein „absolutes, der Natur nicht mehr verpflichtetes Bild“ zu schaffen. Für ihn scheint „das Quadrat das Symbol der Trennung von der gesamten Kulturgeschichte“ und – wie Heiner Stachelhaus schreibt – „Bote einer neuen Schöpfung“ und „die nackte Ikone“ seiner Zeit gewesen zu sein. Allerdings ist dieser Verweis auf die Ikone insofern symptomatisch, als er die Erinnerung an das russische Heiligenbild ins Spiel bringt und
Was den Begriff „Suprematismus“ anbelangt, nur dies: „Im Französischen werden das lateinische ‚suprematia’ (suprématie), was soviel bedeutet wie Überlegenheit, Herrschaft, Oberhoheit, und das davon abgeleitete ‚supremus’ im Sinne des Höchststadiums einer Erscheinung [...] gebraucht.“ (Shadowa) Malewitsch war von der Suprematie, also von der das zukünftige Kunstgeschehen beherrschenden Stellung seiner Bildauffassung fest überzeugt. So schrieb er 1915: „In Moskau beginnt man mir beizupflichten, daß man unter neuer Flagge auftreten muß. [...] Mich dünkt, daß Suprematismus am besten paßt, weil es Herrschaft bedeutet.“
Nullpunkt der Malerei
Malewitschs suprematistische Bilder sollten in dem Sinne „absolut“, also von äußeren Realitäten „losgelöst“, sein, als sie keinen Darstellungsauftrag zu übernehmen und keine Abbild- oder Repräsentationsfunktion zu erfüllen hatten. Gleichwohl ist festzuhalten, daß das Quadrat eine hochgradig meditative, spirituelle Form ist, daß der Kreis in fast allen Kulturen als Symbol der Geschlossenheit, Vollkommenheit und kosmischen Harmonie gilt und daß im Kontext der abendländisch-christlichen Kultur erst recht das Kreuzmotiv nur schwerlich als „reine Form“ gelesen werden kann. Immer wieder, auch nach der Oktoberrevolution, taucht bei Malewitsch die Kreuzform auf, beispielsweise in seinem Suprematistischen Gemälde (rotes Kreuz auf schwarzem Kreis) von 1920/22.
Um in die Zeit um 1915/16 zurückzukehren: Bald wurden die gegenstandslosen Kompositionen Malewitschs nicht nur kleinteiliger und damit komplexer, sondern auch spannungsreicher. Die schräge Achse wurde zum bestimmenden, den Eindruck von Bewegung suggerierenden Kompositionsprinzip. „Einfache, erst rote und schwarze, dann blaue und grüne Balken folgen der Bewegung. [...] Das Rechteck wird zum Trapez, die Diagonale wird durch eine zweite Achse wiederholt“ (Gray) und dadurch zusätzlich dynamisiert, so etwa in der Komposition Suprematistisches Gemälde (mit schwarzem Trapez und rotem Quadrat) von 1915. Indem neben Schwarz und Rot auch wieder Grün, Blau und Gelb auftauchen, kehrt Malewitsch zu seiner früheren intensiven Farbigkeit zurück. (Es gibt allerdings auch Gemälde mit gebrochenen Farbtönen, etwa mit Pastellfarben wie Rosa und Mauve.) Dünne Linien, angeschnittene Kreise, lang gestreckte Rechtecke lassen gleichsam Planeten assoziieren, die sich auf vorgezeichneten Bahnen im Raum fortzubewegen scheinen. Tatsächlich sind Phänomene des Schwebens und der Schwerelosigkeit ein Charakteristikum der Avantgardekunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Jeannot Simmen hat das Schweben als das maßgebliche Indiz der Moderne gekennzeichnet. Beweise gebe es genügend: El Lissitzkys Zukunftsidee der Überwindung des Fundaments, Kandinskys Befreiung vom Materiellen und die Substitution des Bildzentrums durch die Ortlosigkeit des „Irgendwo“, und natürlich Malewitschs „Loslösung von irdischen Orientierungspunkten in einer alldimensional kosmischen Perspektive“. Die suprematistische Periode der Jahre 1915/16 bis 1919 ist in der Bonner Ausstellung durch herausragende Arbeiten ausgezeichnet belegt und bildet gleichsam das Rückgrat dieser großartigen Retrospektive.
Lesen Sie morgen hier den zweiten Teil dieses dreiteiligen Essays.
Alle Fotos © Rainer K. Wick |