Die künstlerische Revolution des Kasimir Malewitsch (2)

Große Retrospektive in der Bonner Bundeskunsthalle

von Rainer K. Wick

Kasimir Malewitsch 1934 - Foto: Bundeskunsthalle
Die künstlerische Revolution
des Kasimir Malewitsch (2)

Große Retrospektive in der Bonner Bundeskunsthalle


Durchbruch zur Gegenstandslosigkeit
 
Nach Jahren des Suchens und Experimentierens gelang dem Künstler Ende 1913 der Durchbruch zur gegenstandslosen Kunst, zum Suprematismus, mit dem sich Malewitsch an die Spitze der russischen Avantgarde setzte. Im Dezember 1913 fand in Sankt Petersburg die Uraufführung der futuristischen Oper Sieg über die Sonne statt, ein avantgardistisches Singspiel, für das Kasimir Malewitsch die Kostüme und die Bühnenbilder entwarf, u.a. ein diagonal in eine schwarze und eine weiße Fläche gegliedertes Quadrat – sein erstes „suprematistisches“ Werk.
Damit schlug der Künstler ein neues Kapitel auf, nämlich das der Gegenstandslosigkeit. Drei Bilder stehen am Anfang dieser neuen Phase, nämlich das „Schwarze Quadrat“, der „Schwarze Kreis“ und das „Schwarze Kreuz“. Ihre Datierung ist unsicher. Erstmals öffentlich gezeigt wurden Malewitschs frühe suprematistische Arbeiten im Dezember 1915, und zwar in der zweiten Ausstellung der Futuristen in Petrograd (seit Kriegsbeginn der neue Name für Sankt. Petersburg), die den Titel „Letzte futuristische Ausstellung – 0,10“ trug. Ziel war es, wie Malewitsch selbst formuliert hat, ein „absolutes, der Natur nicht mehr verpflichtetes Bild“ zu schaffen. Für ihn scheint „das Quadrat das Symbol der Trennung von der gesamten Kulturgeschichte“ und – wie Heiner Stachelhaus schreibt – „Bote einer neuen Schöpfung“ und „die nackte Ikone“ seiner Zeit gewesen zu sein. Allerdings ist dieser Verweis auf die Ikone insofern symptomatisch, als er die Erinnerung an das russische Heiligenbild ins Spiel bringt und

Bühnenbildentwurf für die Oper 'Sieg über die Sonne' 1913
insofern die These von Malewitschs vermeintlich radikalem Traditionsbruch sogleich relativiert. Abgesehen davon, daß die Bonner Ausstellung eine Reihe überraschender Blätter des Künstlers aus dem Jahr 1918 mit Kruzifix-Darstellungen zeigt (Entwürfe für die Oper „Krieg“), die die spirituellen Neigungen des Künstlers erahnen lassen, betten die Kuratoren den Suprematisten Malewitsch bewusst in den historischen Kontext der russischen Sakralkunst ein, indem sie mit exquisiten Ikonen aus dem 15., 16. und 17. Jahrhundert eine Brücke zwischen Tradition und Moderne schlagen und auf unterschwellige Kontinuitätslinien in der russischen Kunstgeschichte aufmerksam machen.
Was den Begriff „Suprematismus“ anbelangt, nur dies: „Im Französischen werden das lateinische ‚suprematia’ (suprématie), was soviel bedeutet wie Überlegenheit, Herrschaft, Oberhoheit, und das davon abgeleitete ‚supremus’ im Sinne des Höchststadiums einer Erscheinung [...] gebraucht.“ (Shadowa) Malewitsch war von der Suprematie, also von der das zukünftige Kunstgeschehen beherrschenden Stellung seiner Bildauffassung fest überzeugt. So schrieb er 1915: „In Moskau beginnt man mir beizupflichten, daß man unter neuer Flagge auftreten muß. [...] Mich dünkt, daß Suprematismus am besten paßt, weil es Herrschaft bedeutet.“
 
Nullpunkt der Malerei
 

Suprematistisches Gemälde auf schwarzem Kreis 1920-22
Die Ausstellung im Dezember 1915, in der Malewitsch seine suprematistischen Bilder erstmals öffentlich zeigte, war, wie zwei Jahre vorher die Aufführung der futuristischen Oper „Sieg über die Sonne“, eine Sensation. Der merkwürdige Ausstellungstitel „0,10“ bezieht sich auf eine von Malewitsch geplante Zeitschrift mit dem Titel „Null“, und es war vorgesehen, daß zehn Künstler ihre neuesten Arbeiten vorstellen sollten. In einem Brief vom 29. Mai 1915 an den Malerkollegen Matjuschin schrieb der Künstler über dieses Projekt, daß es darum gehe, „alles auf Null zu bringen“. Und in der Broschüre „Vom Kubismus und Futurismus zum Suprematismus“ hat er in die gleiche Richtung gedacht: „Ich habe mich in den Nullpunkt der Formen verwandelt und bin über Null hinausgegangen“. Anlässlich der Ausstellung „0,10“ veröffentlichte er ein Manifest, in dem er sich ganz ähnlich äußerte: „Nur wenn wir uns daran gewöhnen, in einem Bild keine Naturausschnitte, Madonnen oder schamlosen Akte mehr zu suchen, können wir die reine Malerei würdigen. [...] Ich bin aus dem Kreis der Gegenständlichkeit, der den Künstler auf die Naturformen festlegt, herausgetreten und auf den Nullpunkt zurückgekehrt. [...] In der neuen Kunst hat sich der Gegenstand wie Rauch verflüchtigt.“
Malewitschs suprematistische Bilder sollten in dem Sinne „absolut“, also von äußeren Realitäten „losgelöst“, sein, als sie keinen Darstellungsauftrag zu übernehmen und keine Abbild- oder Repräsentationsfunktion zu erfüllen hatten. Gleichwohl ist festzuhalten, daß das Quadrat eine hochgradig meditative, spirituelle Form ist, daß der Kreis in fast allen Kulturen als Symbol der Geschlossenheit, Vollkommenheit und kosmischen Harmonie gilt und daß im Kontext der abendländisch-christlichen Kultur erst recht das Kreuzmotiv nur schwerlich als „reine Form“ gelesen werden kann. Immer wieder, auch nach der Oktoberrevolution, taucht bei Malewitsch die Kreuzform auf, beispielsweise in seinem Suprematistischen Gemälde (rotes Kreuz auf schwarzem Kreis) von 1920/22.
 
Um in die Zeit um 1915/16 zurückzukehren: Bald wurden die gegenstandslosen Kompositionen Malewitschs nicht nur kleinteiliger und damit komplexer, sondern auch spannungsreicher. Die schräge Achse wurde zum bestimmenden, den Eindruck von Bewegung suggerierenden Kompositionsprinzip. „Einfache, erst rote und schwarze, dann blaue und grüne Balken folgen der Bewegung. [...] Das Rechteck wird zum Trapez, die Diagonale wird durch eine zweite Achse wiederholt“ (Gray) und dadurch zusätzlich dynamisiert, so etwa in der Komposition Suprematistisches Gemälde (mit schwarzem Trapez und rotem Quadrat) von 1915. Indem neben Schwarz und Rot auch wieder Grün, Blau und Gelb auftauchen, kehrt Malewitsch zu seiner früheren intensiven Farbigkeit zurück. (Es gibt allerdings auch Gemälde mit gebrochenen Farbtönen, etwa mit Pastellfarben wie Rosa und Mauve.) Dünne Linien, angeschnittene Kreise, lang gestreckte Rechtecke lassen gleichsam Planeten assoziieren, die sich auf vorgezeichneten Bahnen im Raum fortzubewegen scheinen. Tatsächlich sind Phänomene des Schwebens und der Schwerelosigkeit ein Charakteristikum der Avantgardekunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Jeannot Simmen hat das Schweben als das maßgebliche Indiz der Moderne gekennzeichnet. Beweise gebe es genügend: El Lissitzkys Zukunftsidee der Überwindung des Fundaments, Kandinskys Befreiung vom Materiellen und die Substitution des Bildzentrums durch die Ortlosigkeit des „Irgendwo“, und natürlich Malewitschs „Loslösung von irdischen Orientierungspunkten in einer alldimensional kosmischen Perspektive“. Die suprematistische Periode der Jahre 1915/16 bis 1919 ist in der Bonner Ausstellung durch herausragende Arbeiten ausgezeichnet belegt und bildet gleichsam das Rückgrat dieser großartigen Retrospektive.


 Suprematistisches Gemälde (mit schwarzem Trapez und rotem Quadrat) 1915


Lesen Sie morgen hier den zweiten Teil dieses dreiteiligen Essays.
Alle Fotos © Rainer K. Wick