Die Zeichner der Zeit

Drei graphische Großmeister

von André Poloczek

© André POLOczek
Die Zeichner der Zeit
 
André POLOczek über drei graphische Großmeister
 
 
Die Diogenes Hall of Fame des Cartoons
 
Ehrlich gesagt halte ich die Erfindung des Papiers für mindestens ebenso bedeutend, wie die des Buchdrucks; schließlich hatte letzterer ja nur Sinn, weil es bedruckbares und in größeren Mengen zu Verfügung stehendes Material gab, auf dem dann auch gedruckt werden konnte. Und auch in einer weitgehend digitalisierten Welt mag ich auf Papier nicht verzichten. Und nicht auf Verlage, die Bücher machen, die man gerne in die Hand nimmt, die Papier und Ausstattung die Aufmerksamkeit zuteil werden lassen, die sie verdienen.
Einer dieser Verlage ist der 1952 in Zürich gegründete Diogenes Verlag. Das erste dort erschienene Buch zeigte „99 boshafte Zeichnungen“ des englischen Karikaturisten Ronald Searle und trug den Titel: „Weil noch das Lämpchen glüht“. Vorausschauender und prophetischer hätte diese Erstveröffentlichung nicht betitelt sein können. Denn dieses Lämpchen hat der Verlag seither – neben seinem umfangreichen literarischen Programm -  immer auch auf Zeichnerinnen und Zeichner gerichtet. Zu einem großen Teil sind und waren das Karikaturisten, die sämtlich ihren Platz in einer Hall of Fame der kritisch-heiteren Graphik beanspruchen dürfen. Die deutschsprachigen Loriot, F.K. Waechter, Hans Traxler, Paul Flora und Manfred Deix etwa, die Franzosen Bosc, Chaval und Sempé, oder ein Amerikaner wie Edward Gorey. Großmeister allesamt.
 
 
Die äußerst gewissen Ausstattung der Diogenes Bildbände habe ich bereist erwähnt; und ebenso gewissenhaft geht der Verlag offenkundig auch mit seinen Autoren um. So wurde der oben genannte Verlagserstling zum 60jährigen Bestehen 2012 wiederaufgelegt. Und so kommt es, daß ich drei Wiederveröffentlichungen der Schweizer hier mit meinem Lämpchen beleuchten will.
 
Nicht für Zartbesaitete: Tomi Ungerer
 
Friedrich Dürrenmatt hatte schon einen einleitenden Text zu den tatsächlich „boshaften“ Searle-Karikaturen 1952 geschrieben und auch dem Tomi Ungerer-Band „Babylon“, der zuerst 1979 erschien, ist ein Dürrenmatt-Essay vorangestellt. Dürrenmatt, selber Maler und Zeichner, verzichtet beinahe auf Kommentare zu den Ungerer-Karikaturen, weiß aber über andere Zeichner, deutsche Geschichte und Fahrradtouren durchs Elsaß zu plaudern. Dabei lohnt ein genauer Blick auf die zwischen 1977 und 1979 entstandenen Bleistiftzeichnungen. Gekonnt und ohne Zweifel an seinem Strich entfaltet Ungerer sein ganz und gar nicht freundliches Menschenbild. Als dumm, häßlich, gewalttätig, arschkriecherisch, geld-und pornografiegeil führt er sein Personal vor und zartbesaitete Gemüter mögen den Band nach einem ersten Anblättern aus der Hand legen. Vielleicht aber auch nicht, denn Ungerers Strich-Ästhetik ist versöhnlich. Weiche Bleistiftlinien, die nie pechschwarz sind, geben auf leicht getöntem Papier den Zeichnungen ihre Form – das versöhnt mit der inhaltlichen Grausamkeit und Gewalt der satirischen Blätter. Ähnlich widersprüchlich ist vielleicht nur ein Atompilz – herrlich anzusehen und doch Sinnbild für unfaßbare, zerstörerische Kraft. Ein schön gemachtes Buch, das einen erschaudern läßt.


© Tomi Ungerer 'Babylon' - 1979, 2014 Diogenes Verlag AG, Zürich
 
Picasso – Chronist seiner Zeit
 
Und damit deutlich wird, daß der von Daniel Keel (1930-2011) gegründete Verlag nicht nur Karikaturisten in der (Zeichner-)Autorenschaft hat, will
ich die erstmals 1982 als Taschenbuch erschienene dreibändige Ausgabe der Picasso-Zeichnungen erwähnen. Muß man über Picasso überhaupt noch etwas sagen oder schreiben? Ein Künstler, für den schon zu Lebzeiten zwei Museen eingerichtet wurden, dessen Name auch von denen genannt wird, die keinen zweiten Maler kennen? Da ist es schön, den Dürrenmatt-Essay in „Babylon“ zitieren zu können. Der Schriftsteller äußert sich – gleich in der zweiten Zeile über Picasso: „Nicht daß ich etwas gegen Picasso hätte, außer daß mir seine Zeitgebundenheit auf die Nerven ging. Das verhinderte, daß ich mich je als sein Zeitgenosse empfand: Er war für mich stets mehr ein kunsthistorisches als ein künstlerisches Ereignis.“ Es ist immer herzerfrischend zu lesen, wenn an den Sockel eines Denkmals gepinkelt wird, und nichts anderes macht Dürrenmatt, wenn er Picasso dessen Zeitgebundenheit ankreidet. Die drei chronologisch geordneten, leinengebundenen Bändchen (1893-1929, 1930-1954, 1954-1972), die den zu Recht unter Genieverdacht geratenen Zeichner Picasso vorstellen, machen deutlich, daß Zeitgebundenheit – so man denn davon bei Picasso sprechen kann – gar kein Manko ist. Ja, daß Zeichner es sich sogar zur Aufgabe machen können, Chronisten ihrer Zeit zu sein. Und wenn das Erledigen dieser Aufgabe mit soviel Spaß am Komischen und Grotesken einhergeht, wie bei Picasso, dann müssen diese, im Schuber gelieferten Bändchen, einfach empfohlen werden.
 
Saul Steinberg entdeckt Amerika
 
Noch einmal will ich Dürrenmatts Essay zitieren, um auf das dritte hier vorgestellte Buch zu kommen, das in keiner graphischen Bibliothek fehlen sollte. Dürrenmatt schreibt: „Ungerer ist ohne jenen Zeichner unserer Zeit, den ich für wichtiger als Picasso halte, Saul Steinberg, schwer denkbar.“ Tatsächlich hatte Saul Steinberg für die gesamte „Neue Frankfurter Schule“-Zeichnerschaft Vorbildfunktion. Sein spielerischer und verspielter Umgang mit Materialien, sein Umgang mit Perspektive und sein genauer Blick auf die für ihn „Neue Welt“ Amerika machten den 1914 in Rumänien geborenen Karikaturisten schnell zum Ideengeber und Phantasieanreger, und sein Einfluß auf die gesamte Pop-Kultur kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sein zuerst 1992 „Die Entdeckung Amerikas“ zeigt, wie weiträumig Steinberg seine Bilderwelten angelegt hat. Da werden Notenlinien zu Fassaden, da stehen typographische Skulpturen in der Landschaft, da darf auch mal der Zirkel kreisen und Farbstift, Aquarell und Collage vereinen sich auf demselben Blatt zu phantastischen Stadt- und Architekturlandschaften. Absolut gekonnt und von kindlicher Unbefangenheit zugleich.
Derlei findet sich auch im Magazin „New Yorker“, für das Saul Steinberg zahlreiche Graphiken gemacht hat, von keinem Zweiten. Und dem Diogenes Verlag sei aufrichtig gedankt dafür, daß er diesen Zeichner auf seiner Backlist führt und somit ins 21. Jahrhundert hinüberrettet.

Tomi Ungerer - Babylon
2014 Diogenes Verlag, Hardcover, 172 Seiten - ISBN 978-3-257-00493-9
€ (D) 29.90 / (A) 30.80 / sFr 41.90*

Pablo Picasso - Der Zeichner, in drei Bänden
Herausgegeben von Jean Jouvet
2014 Diogenes Verlag, Hardcover , 416 Seiten - ISBN 978-3-257-02124-0
€ (D) 39.90 / (A) 41.10 / sFr 55.90*
 
Saul Steinberg - Die Entdeckung Amerikas
Aus dem Englischen von Angelika Schweikhardt
1992 Diogenes Verlag, Hardcover Leinen, 212 Seiten - ISBN 978-3-257-02042-7
€ (D) 49.90 / (A) 51.30 / sFr 68.90*
 
Weitere Informationen:  www.diogenes.ch

Redaktion: Frank Becker