Nocht ist es nicht zu spät

Die bislang längsten Norddeutsche Notizen

von Andreas Greve

Andreas Greve - Foto © Arne Weychardt

NOCHT ist es nicht zu spät -
Norddeutsche Namenstage von Posch bis Focks
 
Die bislang längsten Norddeutsche Notizen
von Andreas Greve

Zum Ende des ersten Quartals möchte ich gerne noch die Reste vom Winter wegräumen. Ich werfe zunächst einmal ein paar Namen in die Luft: Wann traf ich Alexander Posch, der mir von seinem endlichen Buch berichtete? Das weiß ich nicht mehr genau, aber es war bei einer Veranstaltung im neuen „Nochtspeicher“, über den ich seit einem halben Jahr (solang gibt es ihn) berichten wollte. Unten am Hafen war es jedenfalls noch sehr kalt und es war an einem der Abende der ebenfalls neuen „Piloten“-Reihe vom Hamburger Mairisch-Verlag in besagtem Kulturspeicher bei dem Spaceman Spiff Songs vorstellte und Stefan Beuse aus einem unveröffentlichten Buch las. Es war ziemlich gut besucht, was bislang keineswegs immer so war/ ist im „Nochtspeicher“ – nicht einmal bei der Lesung von Matthias Politycki, bei dem zwar Hoffmann und Campe Verleger Ganske als hoher Überraschungsbesuch unter den Zuhörern weilte - von denen es aber auf den restlichen Stuhlreihen wahrlich nicht all zu viele gab. Nach der sehr souveränen Lesung musste der Hamburger Romancier (der auch Lyriker, Essayist, Frauenkenner („Weiberroman“), Kurator und sonst was sein kann) den beiden Moderatorinnen des „Nochtspeichers“ Rede und Antwort sitzen und auch dieses Gespräch hatte noch einen Geschmack von neu und nicht eingespielt, obwohl sich die beiden Fragestellerinnen, Friederike Moldenhauer und Tina Übel, schon seit Jahren und eben auch als Veranstalterinnen und Moderatorinnen – zuförderst im Slam-Ring - kennen. Ich habe dann ein wenig über die Stimmung vor der Veranstaltung geschrieben, eigentlich nur als Vorlauf zu einem kleinen Interview, das ich mit Friederike alleine machte, weil Tina es vorzog, aufgeregt und aufgelöst durch die Lokalitäten zu flitzen. Bevor ich das hier einrücke, möchte ich aber noch – behalten Sie bitte Posch im Gedächtnis - zwei weitere Namen in die Luft werfen: Charles Lindbergh und Torben Kuhlmann, der ein Kinderbuch geschrieben hat, das nur insofern mit dem hafennahen „Nochtspeicher“ zu tun hat, als die Held-Maus in seiner Geschichte ihren Flug nach Amerika oberhalb der Landungsbrücken beginnt. Wenn ich dann noch Zeit und Kraft habe, würde ich als letzten Namen den Focks abhandeln und zwar unter der These: Harvey Focks ist nicht zu fassen! Mal sehen.


Nochtspeicher - Foto © Andreas Greve
 
Steigen wir also ins Rohtext-Lager, quasi in den Textspeicher über den „Nochtspeicher“:
Nochtspeicher auf St. Pauli: Kultureller Luxus qua Engagement - www.nochtspeicher.de/
 
Es herrschte nicht unerhebliche Nervosität vor dem vierten Abend des „Yachtclubs“ im „Nochtspeicher“ auf Hamburg St. Pauli. Matthias Politycki wollte aus seinem neuen Roman „Samarkand, Samarkand“ vorlesen und es hatten sich einige aus dem „Hoffmann und Campe“ Verlag angekündigt, sogar der Verleger Thomas Ganske in persona. Also wurde nicht nur der große Saal im Erdgeschoß, sondern auch die Party-Keller-Gewölbe, eine Art Dance-Floor mit Polstermöbeln, hergerichtet. Auch das machte Friederike Moldenhauer, während Tina aufgelöst umher lief. Das hatte auch etwas mit einer anstehenden längeren Reise am nächsten Tag zu tun, teilweise mit dem schwierigen Start des Projektes, aber teilweise auch mit der eingespielten Choreographie von

Friederike Moldenhauer im Nochtspeicher - Foto © Andreas Greve
„Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“ zwischen den beiden Kulturenthusiastinnen. Diesmal lag Tina vorne, war wirklich am Ende und klagte mal über das verlorene iPhone, mal über ein verschollenes Bücherpaket und lief ansonsten aufgeregt rein und raus. Sie hat das Schicksal „Bauherrin“ monatelang leibhaftig genossen. Und so stand nur Friederike Moldenhauer für ein kleines Interview zur Verfügung. Die beiden kennen sich seit Jahren und waren - mit anderen zusammen - auch Motoren im nacht- bzw. literaturaktiven „Machtclub“.
Der „Nocht-Speicher“ ist neu. Der Ort nicht, denn das Gemäuer diente einst als Schnapsfabrik und erlangte später eine gewisse Bekanntheit als „Erotik-Art Museum“, in der Grundstellungen oder auch gewagte Varianten des Liebesspiels künstlerisch aufbereitet ausgestellt wurden. Ich (A. G.) fragte Friederike Moldenhauer (F.M.) zunächst nach dem Konstrukt oder der Struktur des neuen Hamburger Kulturhauses „Nochtspeicher“ an der elbnahen Bernhard-Nocht-Straße auf St. Pauli.
 
F. M.: Wir sind ein gemeinnütziger Verein, sieben Kuratoren, also Mitmacher des e.V., kümmern sich um das Programm – wir (Tina und Friederike) um die Literatur und die anderen fünf Köpfe um die anderen Sparten, nämlich Architektur, Kunst, Tango/Swing, Jazz und Live-Musik.
A. G.: Und wie gründet man so etwas beziehungsweise wie wird man Mitglied dieses Vereins?
F.M.: Indem man sich zusammentut, und einen Verein gründet, um Kunst und Kultur auf St. Pauli zu promoten. Der harte Kern sind also die sieben Gründungsmitglieder. Und die sind zugleich das programmatische Kuratorium. Es gibt uns noch nicht so lange, deshalb haben wir noch nicht ausgeklügelt, wie man Fördermitglied werden kann.
A.G.: Muß man Geld haben, um Mitglied zu werden – oder eventuell eher stark verarmt sein?
F.M.: Weder noch. Letzteres hoffe ich zumindest nicht. Es gilt das ehrenamtliche Engagement. Wir haben zunächst einen Mitgliedsbeitrag gezahlt, um das Ganze zum Laufen zu bringen, die operativen Kosten zu decken. Es müssen ja auch Telefonkosten etc. bezahlt werden …
A. G.: Was habt ihr da reingebuttert? Was ist der kommerzielle Einsatz? Was sind die Hoffnungen?

Nochtspeicher-Hof St. Pauli - Foto © Andreas Greve
F.M.: Die Hoffnungen sind natürlich, hier so viele zahlende Gäste hereinzubringen, daß wir uns nicht – ich spreche jetzt ausschließlich für die Literatur – gänzlich auf die institutionelle Förderung verlassen müssen. Es gibt daneben eine GBR, die die Gastronomie bespielt, aber das ist eine getrennte Geschichte. Die Hoffnung insgesamt ist, daß der „Nochtspeicher“ so populär wird, daß wir uns um die Finanzen keine Sorgen machen müssen – jedenfalls nicht mehr als jeder Unternehmer so hat an Sorgen.
A. G.: Dann frage ich jetzt nach Deinen kulturellen Hoffnungen.
F. M.: Meine kulturellen Hoffnungen für 2014 sind, daß wir in den Yacht-Club, der jeweils am vorletzten Dienstag im Monat stattfindet – eine Reihe von interessanten Autoren im Laufe des Jahres einladen können. Wir möchten Literatur präsentieren, die jenseits von „Literatur-Haus“ und Club-Bühnen liegt, weil es unsere Absicht ist, eine Brücke zu schlagen zwischen der hochetablierten Kultur und den Poetry-Slams, die es an jeder Ecke gibt.
A. G.: Seid ihr finanziell nervös?
F.M.: Ich persönlich bin finanziell nervös aus den Gründen, die ich gerade geschildert habe. Bisher ist der Besucherzuspruch nicht so, wie wir es vom „Machtclub“ – an den wir ja anknüpfen wollen – kennen und ich hätte hier gerne 200 Leute bei einer Lesung … und darüber hinaus möchte ich lieber 60 Leute nach Hause schicken, weil ausverkauft ist. Je mehr Gäste, desto stärker ist finanzieller Background, den wir für kommende Lesungen zur Verfügung haben.
A. G.: Autoren können also auch ein Honorar erwarten.
F.M.: Im Rahmen des Yachtclubs auf alle Fälle. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, für sonstige Lesungen an einem Dienstag im Monat den Raum zu mieten, wobei die Verlage die Honorare und Produktionskosten etc. zahlen. Beim „Yachtclub“ erhalten die Autoren selbstverständlich ein angemessenes Honorar.
A.G.: Heute haben wir Dienstag. Kann es sein, daß Hoffmann und Campe die Fete sponsert.
F. M.: Nein. Nicht richtig. Heute bedanken wir uns explizit beim Literaturreferat der Kulturbehörde der Hansestadt Hamburg.
A.G.: Und jetzt also meine eigentliche Frage nach dem Payoff, also eurer persönlichen Belohnung. Kurz: Was ist der private Spaß an diesem Ort hier?
F.M.: Der private Spaß liegt darin, Lesungen umsetzen zu können, die mich persönlich interessieren. D. h., wir haben hier weder Groschenheftautorinnen - mit allem Respekt, die leisten auch eine harte Arbeit - noch präsentieren wir hier eine Literatur, die weder Tina Uebel, noch mich interessiert. Wir haben hier den Luxus qua Engagement, uns Autoren einzuladen, deren Bücher wir gerne lesen – und die wir einfach auf der Bühne sehen wollen.
AG: Wie also heute Matthias Politycki. Darf ich noch einmal nachhaken nach dem kommerziellen Konstrukt: Der Hausherr ist dann ja wohl die Lawaetz Stiftung?
F. M.: Ja, genau: Die Lawaetz-Stiftung vermietet die Räume an die GBR und wir sind quasi Untermieter der GBR.
A.G.: D.h., die Lawaetz-Stiftung macht es sozusagen erträglich, weil sie die Umbaukosten auf 400 Jahre (Schätzwert unseres Korrespondenten) streckt …
F.M.: … die einen Mietpreis anbietet, der es erst ermöglicht, daß hier Kultur stattfindet, die unter normalen Bedingungen überhaupt nicht stattfinden kann.
A.G. Jetzt habe ich es verstanden. Danke sehr, Friederike Moldenhauer!
 
Gast Politycki bekam selbstverständlich zuerst eine Führung und fand für die Party-Grotte im Keller die Beschreibung „wie Klein-Hobbit seine Höhle“. An dieser Stelle gebe ich das Wort kurz an den Lyriker Hellmuth Opitz, damit er den großen – und schweren – Roman bespricht: www.fixpoetry.com/
Und hier stellen wir uns dann die Lesung vor. Nach all dem Vorglühen hätte man sich in der Tat 200 Zuschauer gewünscht. Es wurde dann aber nur ein Zehntel der erträumten Menge. Trotzdem eine phantastische Lesung, zu der man sich mühelos noch einen leise

Nochtspeicher-Bühne - Foto © Andreas Greve
prasselnden Kamin imaginieren könnte.
Ja, dagegen tobte regelrecht das Leben einige Zeit später bei der Piloten-Reihe und nicht wenige Akteure aus der Literaturszene Hamburgs waren dabei, wie eben auch der erwähnte Alexander Posch, der seit Jahr und Tag Szenen aus seinem Suburbia Rahlstedt verliest: Das Ich, die Frau und die drei Kinder. Die hat der Erzähler hauptamtlich an der Backe, weil er der Hausmann im Quintett ist, während seine Frau als Ornithologin das Haushaltsgeld heranschafft. Posch ist privat ein netter Mann, der sich äußerlich nur durch seine enormen Augenbrauen exzentrisch gibt und seine Geschichten klangen für mich stets etwas nach Döntje, weil er sie in sehr breitem Hamburgisch vorträgt. Lange war ein Käseblatt im nordöstlichen Off der norddeutschen Metropole der einzige Ort, wo er gedruckt wurde. Und nun dies – ein Traum wurde wahr. Ein richtiges Buch aus einem richtigen Verlag: Alexander Posch „Sie nennen es Nichtstun“ bei Langen Müller, Hartcover. Alles echt auf 185 Seiten. Und nicht schlecht – so gelesen statt vorgelesen! Auf einmal ist da ein Tonfall, ein Stil, eine Lakonie. Da klang der Anfang schon so gut, daß sich eine alleinerziehende Freundin das opus gleich mit nach Hause lieh. Literarisch gefiel es ihr, es war ihr allerdings dann z u melancholisch. Dieser Zug der Poschen Geschichten war mir bei der mündlichen Überlieferung offenbar entgangen. Der Humor nicht. Wenn es nicht schon so ewig überfällig gewesen wäre, würde ich sagen: ein bemerkenswertes, spätes Debüt. Da werden nicht nur Rahlstedt und Hamburg endlich Augen machen!
 
Im Nochtspeicher hat auch die älteste Slam-Reihe Hamburgs – die von Tina Uebel und Hartmut Pospiech – eine neue Heimat gefunden. Sie waren gerade vom „Molotow“ am Spielbudenplatz zur Bernhard-Nocht-Straße umgezogen, als hinter ihnen die „Esso-Häuser“ quasi zusammenbrachen. Gut geahnt.
Und nun, am 1. April sollte es – nach zweimal 100 Tagen – eigentlich geschafft sein: Dann kommt in der letzten Veranstaltung der Pilotenreihe der diesjährige Buchpreisträger Saša Stanišić mit seinem zweiten Roman "Vor dem Fest". Der junge Bosnier ist nach meiner Meinung ein absoluter Glückgriff für die deutsche Literatur – aber eben deshalb auch für das Ende der Anlaufphase des Anlaufpunktes Nochtspeichers.

Aber Hamburg ist nicht nur Slam-Hochburg, Verlags- und Literaturstandort sowie Dichterheimat, sondern auch ziemlich weit vorn, wenn es um Kinderbuchillustration geht – letztlich durch die legendäre Ausbildung an der einstigen Fachhochschule Armgardstraße. Heute nennt sich das Ding uncharmant HAW und von dort kommen nach wie vor tolle Zeichner bzw. Klasse-Leute unterrichten da. Es gibt einen Ort in Hamburg, der sich im ganz Speziellen mit dieser Buch-Gattung und ihren Akteuren beschäftigt und allen einen Rahmen bietet: Das Kinderbuchhaus , das wiederum Gaststatus im Altonaer Museum genießt. Hier ist die federführende Kraft, Gründerin und Geschäftsführerin Dagmar Gausmann-Läpple, der es beispielsweise gelingt, Ausstellungen so früh nach Hamburg zu holen, daß sogar plötzlicher Ruhm daran nicht mehr rütteln kann. So war das, glaube ich, mit dem Kinderbilderbuch von Torben Kuhlmann, der die Story über Jahre entwickelt und bezeichnet hat. Ursprünglich als ein Studienprojekt, dann als eine Abschlußarbeit über the making of, sodaß er das Buch in Bologna so überzeugend als Prototyp präsentieren konnte, daß der neue Leiter des Nord-Süd-Verlags dachte, die Rechte seinen schon vergeben. Zum Glück entdeckte er auf der Rückfahrt von der Kinderbuchmesse im Katalog den entscheidenden Hinweis und Macher und Verleger kamen doch noch zusammen und es wurden sagenhaft viele Seiten mit Mäusen und Maschinen, mit Milieustudien und Mausefallen. Letztere wurden genau zu der Zeit erfunden und lieferten so einen Turning point in der Entwicklung der Geschichte und einen guten Grund, warum eine Maus den Wunsch verspürt, Hamburg zu verlassen.
„Lindbergh, die abenteuerliche Geschichte einer fliegenden Maus“ bekam zwar nicht ganz so viel Aufmerksamkeit, wie der historische Lindbergh, aber hat das Zeug, Fachleute und Kinderleser zu überzeugen, kam also schon als kleiner Triumph an seinen Entstehungsort Hamburg zurück und im Altonaer Museum einen würdigen und denkwürdigen Empfang: Der Galionsfigurensaal randvoll gefüllt, Reden vom Hausherren, von der Gastgeberin, vom Schweizer Verleger und dann auch von Torben Kuhlmann selbst, dessen Talent für diese Seite des Marketings nicht gering scheint. Ich würde es sogar in der Reihenfolge sagen: Sagenhafte Zeichnungen, super Backgroundstory, starke Stand-up und Showqualitäten, aber nur ganz oke Geschichte, will sagen: nicht gerade „literarisch“ erzählt. Ein Buch, mit dem sich alle sehen lassen können. Meine Kindergärtnerinnen-Schwester empfiehlt es als endloses Seherlebnis– zuförderst für Jungen mit technischer Neugier.
 
Und nun zum Schluß zu Dingen, die es nicht oder nicht mehr gibt und einem Mann, den Mann nicht kennt, der aber alle kennt. Es ist ein Phantom, dem ich leibhaftig begegnet bin, der einen Namen und eine Adresse hat, der mir aber nicht ganz geheuer ist. Ich würde die Verantwortung für ihn gerne in Ihre Hände legen, denn ich persönlich finde: Harvey Focks ist nicht zu fassen.
 
Er ist auf jeden Fall ein Phänomen. Es begann mit einer Ausstellungsankündigung, die neugierig machte. Eine Art Schlagzeilen-Installation in einem Hamburger Bunker, über die man in der „Taz“ – und dann in der „Welt“ lesen konnte. Mein Entwurf ging so:
 
DENK- UND ANDERE - ZWISCHENFÄLLE IM BUNKER – Harvey Focks schlägt Zeilen an und zu
 
Manchmal passen kommunikative Enden nicht ganz zusammen – schon gar in Zeiten des Orkans, wie diesmal, und so war ich eigentlich nicht weiter erstaunt Harvey Focks nicht, wie verabredet, im 4. Stock des Weltkriegsbunkers am Heiligengeistfeldes in Hamburg zu treffen. Aber auch Löwenherz, der dazu kommen wollte, war nicht zu sehen, und so rüttelte ich mehr prophylaktisch an der Eisentür im 4. Stock zum linken Treppenhaus der Betonburg. Sie gab nach, gespannt trat ich hinaus – und stieß fast mit Löwenherz zusammen, dessen eigenes Herz in die Hose gerutscht zu sein schien: Er war vor mir gekommen und hatte sich ausgeschlossen: Weder in den beiden darüber liegenden Etagen, noch wendeltreppabwärts hatte er eine geöffnete Tür gefunden, was an einem Samstagabend in einem gewerblich genutzten Riesenkomplex nicht reizvoll wirkte, aber Panik überkam ihn erst, als er feststellte, daß die bombensicheren Wände auch keine Übertragungswellen fürs Handy durchließen. Er rechnete nicht mit einer Rettung vor Montag. In diesem Fall war ich sein Retter. Wir sicherten die Tür mit unterschiedlichsten Mitteln, um ein erneutes Zuschlagen zu verhindern und begaben uns auf eigene Faust in die Ausstellung, die allein aus Schrift an der Wand bestand. Wie gerne hätte ich sie mir von Harvey Focks zeigen und erklären lassen. Wie gerne hätte ich jemanden getroffen, der einen so großartigen Namen trug: Harvey Focks – graue Eminenz der bunten Biographien. Ein Leben reich an Amplituden, das nun im Alter von mm seinen Hafen ausgerechnet in Husum gefunden hatte. Ich hatte mich sowieso gewundert, daß er wegen des Sturms Xaver nicht abgesagt hatte.
 
Und dann waren da die 90 Tafeln über vier Etagen in einem hallenden Treppenhaus. Einige sprach ich ins Diktaphon, das ich für Fragen an den Künstler mitgenommen hatte. Beim Abspielen hallte meine Stimme – oder das Treppenhaus – oder der Geist von Harvey Focks:
„Der Mythenzerstörer - Peter kommt, Peter geht“
„Ich bin, was ich erzähle – Geschichte einer Demütigung in zwei Variationen“
„Stellen Sie Ihre Fragen – Warum ist es am Rhein so schön?“
Nach uns hat vermutlich kaum jemand die Ausstellung gesehen. Erst wurde sie vorzeitig abgebaut. Dann verschwanden die Tafeln auf mysteriöse Weise aus diesem Transitlager.
Vorher fanden wir dennoch zueinander. Nicht Aug in Aug, nicht per Briefpapier, sondern - ganz gegen den Geist der Ausstellung – digital. Hier das kurze Mail-Interview:

Harvey Focks - Foto © Andreas Greve
Frage 1: Harvey Focks, was für ein großartiger Name! Es hätte mich nicht gewundert, wenn Sie aus einer der verschlossenen Türen mit den Worten ins Treppenhaus getreten wären: „Mein Name ist Focks, Harvey Focks …“ Ein Künstlername?
Antwort Harvey Focks: Korrekt. Künstlername. Im Paß. Seit dem 12. Lebensjahr. Ich war Solist im Knabenchor Hannover.
Frage 2: Warum bezeichnen Sie sich überhaupt als Künstler. Sie haben doch viel faßbarere Berufe ausgeübt – eigentlich alles außer Tierpfleger. Wozu braucht der Doyen der Bunten Biographie, der internationale Großereignisse gemanagt hat, diesen ungenauen und obendrein wertlosen Titel?
Antwort: Ich sehe mich als Worte-(er)finder. Bernd Kauffmann, der Generalbevollmächtigte der Stiftung Neuhardenberg und Künstlerischer Leiter der Movimentos Kunstwochen der Autostadt Wolfsburg hat mich einen „Verblüffungskünstler“ genannt. Paßt.
Frage 3: Was hätten Sie als erstes vor Ihren Satztafeln an der Wendeltreppenwand des Bunkers erklärt. Und ist das wirklich so ein idealer Ort für Sinn?
Antwort: Ich erkläre nichts. Schauen Sie – und sehen Sie, was meine Wortsplitter mit Ihnen machen. Den Ort habe ich entschieden nach drei Jahren Rundreise durch Deutschland. Der MEDIENBUNKER – vier Etagen für 90 Originale – ist perfekt. Der Veranstaltungsort selber offenbar nicht.
Frage 4: Aufmerksam auf die Ausstellung wurde ich einen ganzseitigen Artikel in der TAZ, der Sie ganz schön beschreibt – und größtenteils in einer St. Pauli-Pinte spielt. Gerade eben las ich noch einen (etwas jäh abbrechenden) Bericht in der WELTin dem sich Katja Engler ziemlich viele Gedanken über die Schrift an der Wand macht. Welchen der beiden kann ich unseren Lesern empfehlen?
Antwort: Dem taz-Porträt merkt man unverkennbar an, daß sich der Autor 3 ½ Stunden Zeit genommen hat für das Thema – und eine gute Schreibe hat. Es paßt einfach, wenn er schreibt: „Focks erkundet mit seiner Arbeit den Sound der Worte, wenn sie von ihrer Pflicht, uns zu informieren, befreit sind“.
Frage 5: Weder Kommunikation noch Demokratie sind Einbahnstraßen. Deshalb dürfen Sie die Überschrift zu meinem kleinen Aufsatz hier selbst bestimmen – gerne auch mit Begründung, eigener Variante, mit oder ohne Medien-Schelte … que tu quieres:
DIE SCHRIFT AN DER WAND
SÄTZE IM (ZWEIER)SATZ
SINN ALS LOS
anderes
Antwort: „Denkzwischenfälle im Medienbunker“.
Letzte Frage: Keine weiteren Fragen! Danke, Harvey! Grüßen Sie Husum! – Halt!
Eine allerletzte Frage noch: Wo wird die Ausstellung 2014 überall zu sehen sein?
Antwort: Konkrete Anfragen, die mich bisher erreicht haben:
Lit-Cologne 2014, in Köln, / Regie mein Verleger Walther König
Frankfurt / M.: „Haus des Buches“
Berlin: Stiftung Schloss Neuhardenberg
Nürnberg: Museum Kunst und Medien
München: Stadtmuseum? - Medienpartner die SZ
… hier brechen meine Aufzeichnungen ab – dann auch meine Verbindung zu Focks. Gab es ihn wirklich? Wäre er nicht eine großartige fiktive Figur? Und was meint Axel Hacke dazu?
Auch ich breche hier ab: Es handelt sich vermutlich um die letzten NORDDEUTSCHEN NOTIZEN. In der Form werde ich diese Rubrik nicht weiter führen. Über eine neue Variante muß ich nachdenken. Ersteinmal sind an dieser Stelle die Leser gefragt: Wer weiß mehr über Harvey Focks? Wer hat ihn gesehen? Wer hat ihm Geld geliehen? Was geschah mit Harvey und Hacke in Husum?
 
HARVEY FOCKS IST NICHT ZU FASSEN
 
Harvey Focks – was für ein Name!
Klingt per se schon legendarisch.
Harvey nutzt ihn als Reklame
und er pflanzt damit als Same
das Gefühl, er wär´ genialisch
(ist er auch – nicht nur sein Name)

Focks, der Fuchs, beherrscht Kontakte,
attackiert die Telefone,
aktiviert sich selbst als Akte
aquiriert hart Art-Kontrakte
„SelbstVersÄtung“: Kunst-Sinn-Zone.
Warum er in Hamburg packte?
- was war Spatz und was Kanone?
weiß ich nicht. Hier fehlen Fakte …

Nur läßt sich das nirgendwo finden, nicht im Programm der Literaturtage, nicht unter den von ihm fallen gelassenen Stichworten Dumont oder Verlag Buchhandlung König. Seine „SelbstVersÄtzungen“ sind dort bislang auch nicht erschienen. Hingegen weiß man bei der Süddeutschen Zeitung durchaus etwas von Gesprächen über eine Medienpartnerschaft mit Harvey Focks für den Herbst. Immerhin stammen alle von ihm benutzten Überschriften aus einem Jahrgang SZ. Schaun wir mal.
Ich finde, Harvey Focks steht jede Art von Münchhausen-Geschichte gut zu Gesicht.
Ihm schon.
 
Ahoi!

Redaktion: Frank Becker