Meine Helden

von Richard von Schaukal

Meine Helden
 
Jedes Kind hat seine Heldenzeit, das heißt eine Zeit, da ihm Helden erscheinen, neidlos bewunderte Gestalten, die den Alltag himmelhoch überragen. Meine Helden waren Franz, der Sohn von Großmutters Köchin Hanni, die schon vor Erschaffung meiner Welt mit allen den anderen selbstverständlichen Wesen und Dingen dagewesen war, Franz, der sich nur selten sehen ließ und immer erst aufgefordert werden mußte, vom blankgescheuerten Küchen„hockerl“ aufzustehen und zu uns in die Zimmer zu kommen, wo Blumenstöcke und der Kanarienvogel, die „Schlummerrolle“ auf dem Ledersofa und andere dahin gehörende Gegenstände sich befanden, Franz, der Sommersprossen hatte, was, da´s niemand sonst hatte, eine Auszeichnung schien, Franz, der Bilderbogenhäuser richtig ausschneiden, zurechtbiegen, zusammenkleben und aufstellen konnte, also ein Zauberer war, Franz, der unter den Händen um die Knöchel rote gestrickte „Pulswärmer“, eine scheu betrachtete Merkwürdigkeit, zu tragen pflegte, auf denselben kurzen und knochigen Händen, mit schauerlich verkehrtem, blutangelaufenem Kopfe zu stehen und mit den Fingern ebenso wie mit der Zunge zu knacken und zu knallen imstande war, „Franzi“, der Abenteuerliche, Wunderbare, Unerreichte; sodann Tante Luise, die, wie niemand „bei uns“, einförmig durch dies Nase sprach und so herrlich bleich war wie ein Bogen Papier, während ich und die andern „bei uns“ rote Wangen besaßen; Tante Julie, von der ich einmal gehört hatte, daß sie sehr arm wäre, arm „wie eine Kirchenmaus“, was ich mit ihrem sonderbaren kittelförmigen grauen Kleid in Zusammenhang brachte, Tante Julie, die immer „Witze“ machte, worüber alle lachten; da sie niemals „Witze machten“, aber gerne lachten, Tante Julie, die aus einer hölzernen Dose sogar bisweilen schwarzbraunes Pulver an die dicke Nase brachte und da hineinstopfte, wobei ein Teil verstreut ward; der Schuster, der einem zu Stiefeln Maß nahm, was angenehm kitzelte; Herr Schmal, der bei Onkel Christian ganz vorn in der „Kanzlei“ seinen Sitz hatte, einen Hund, den ersten Hund in meinem Leben, und, wie niemand sonst, einen Hausschlüssel besaß; vor allem aber zwei uralte Leute, die ich näher beschreiben muß, weil ich sie nicht nur wie die andern und noch einige Helden minderer Ordnung bestaunte, sondern geliebt habe mit der ganzen Kraft meines kleinen, aber sehr starken Herzens.

Das Haus mit dem roten Dach, worin Großmutter wohnte, gehörte Onkel Christian und Tante Lotte, Großmutters Schwester. Das waren vornehme Leute, die sonntags mit den Arbeitspferden spazieren fuhren und immer roten Wein, rote Rüben und Speisepulver auf dem Tische hatten. Onkel Christian machte alljährlich seine Badereise und ging jeden Abend in die Lesehalle. Als er siebzig Jahre alt geworden war, gab's dort ihm zu Ehren ein großes Fest, und ein Lied, das auf ihn gesungen ward, war sogar mit roten Anfangsbuchstaben sehr schön auf    dickes Papier gedruckt, an alle Bekannten verteilt worden. Auf niemand sonst in der ganzen Familie ist ein gedrucktes Lied gemacht worden. Onkel Christian war klein und rundlich, sein gutes Gesicht war rot, das schlichte Haar und der dicke Schnurrbart waren schneeweiß. Er trug Brillen. Aber die uralten Leute, die ich näher zu schildern nicht unterlassen kann, sind nicht der Herr des alten Hauses mit dem roten Dach und seine stets zärtlich hinter ihm hergrollende Frau, Tante Lotte, die Gicht hatte und in ihrem schwarzen Seidenkleid, immer hustend, durch die spiegelblank gebohnten Zimmer humpelte, sondern die Hinterhaus- und Hofbewohner, ein Mann, vielmehr ein greises Männlein, und ein Weib, gleichfalls aus Urgroßmuttertagen, aber strammer als der in sich gebückte schlottrige Alte. Sie hatten nichts miteinander zu tun; auch wohnte nur der „Herr Ahndl“ so hieß man ihn im ganzen Hause, in einem niedrigen Holzgebäude, das außer seinem einfenstrigen Gemach noch die Waschküche, das Bereich der „Löschin“ umfaßte.

Die „Löschin“ haßte den „Herrn Ahndl“ geradezu, aber sie haßte rasch und viel, und niemand nahm es tragisch, am wenigsten der „Herr Ahndl“ selbst, der gutmütig wie ein zahnloser, lendenlahmer Hund den Tag und das Leben durchzottelte. Immer in Bewegung, immer dienstgefällig, war er wie eine tickende Uhr, deren regelmäßigen Gang man überhört, aber aufblickt, wenn sie, abgelaufen, stehen bleibt. Auch der „Herr Ahndl“ war manchmal abgelaufen, buchstäblich, und saß dann da, die schmierige Kappe zwischen den demütigen Knien, und wartete darauf, wieder aufgezogen, wieder in Gang gebracht zu werden. Er sprach nicht viel, murmelte aber, wenn er einen von den zahlreichen Herrenleuten erblickte, immer irgend etwas Unverständlich-Freundliches, ja Gerührtes, und lächelte dazu mit einer Wärme, die sich wie Kachelwärme wohlig um ihn verbreitete. Das konnte „die Löschin“ keineswegs. Lächeln war ihre Sache nicht, und ihre Freundlichkeit, denn auch sie war freundlich gegen jedermann, außer ihre Brotgeber, hatte im Gegensätze zu seiner innig-unterwürfigen etwas fast Feierliches. So war sie denn auch zu jedem Festtag, Namens- oder Geburtstag mit ihrem Glückwunsch zur Stelle. Zumal uns Kindern wußte sie stets auf das artigste aufzuwarten, und so verging kein irgendwie als Wendepunkt sieh, kennzeichnender Abschnitt des Jahres, ohne daß ihn „die Löschin“ mit einem sinnigen Angebinde - die ersten Kirschen, Palmkätzchen zu Ostern, ein überkommenes Gebäck sonstwann - begangen hätte. Wir hielten dem stets etwas verschüchternden Auftritt stand, als handelte es sich um eine gebotene Pflicht höfischer Gepflogenheit, und atmeten erleichtert auf, wenn die Förmlichkeit sich abgewickelt hatte. Aber „die Löschin“ war auch sonst ergiebig: Märchen und Sagen strömten ihr, zwar nicht rauschend, sondern gelassen, doch bannend in ihrem ruhigen Flusse, vom schmalen Mund, unter dem ein hartes Kinn sich ruckweise bewegte und eine faltige gelbe Haut den Hals hinab wie eine Fahne wallte.

„Die Löschin“ war Großmutters Amme gewesen und, was vielleicht noch seltsamer klang als diese ehrfürchtig hingenommene Kunde, in ihrer Jugend ein schönes, leidenschaftliches Mädchen. Daß noch die aufrechte Greisin Temperament und Phantasie besaß, das muß mir heute die urteilende Erinnerung bestätigen. Daß sie die Waschküche beherrschte und den dort beschäftigten Mägden des Hauses Erstaunliches und Ergötzliches erzählte, hab' ich mir öfters sagen lassen. Der strenge Kopf, das spärliche Haar straff unter der fest geknüpften, schwarzen, rotgetupften Haube, die lebhaften Augen aus knochigem Gehäuse blitzend, steht unauslöschlich in meinem Gedächtnis. Aber Auch der dagegen ärmlich und demütig sich senkende Graukopf des „Herrn Ahndl“ ist mir unverlierbar. Und als ein heiliges Vermächtnis heg ich die ahnungsvolle Stunde, da ich einst den Alten in seiner Kammer an seinem schmalen, niedrigen Eisenbett auf einem Schemel, ungewohnte Brillen tief auf der unscheinbaren Nase, hatte sitzen sehen, wie er in seiner schmutzig-abgegriffenen Bibel las. Ehrfürchtig, so schien mir´s, saß die Katze ihm gegenüber, die wir sonst nur auf dem First der Hofmauer schleichen oder durch den Hof fliehen sehen durften.
Helden sterben nicht, Helden werden entrückt. Auch der „Herr Ahndl“ und „die Löschin“ waren dieses Schicksals der Auserwählten teilhaft: ich weiß nicht wann, ja ich weiß überhaupt nicht, ob sie gestorben sind wie alle anderen „bei uns“. Sie sind aus meinem Leben geschwunden, das sich von ihnen und dem alten Haus mit dem roten Dach allmählich entfernt hatte, aber sie sind unsterblich, wie es Helden gebührt.   
 
 
Richard von Schaukal