Einfach mal fragen

Kurzgeschichte

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker

Einfach mal fragen


Die Klasse, mit der ich zur Zeit literarisch arbeite, ist eine Quarta von achtundzwanzig Schülerinnen und Schülern, die Kinder zwölf oder dreizehn Jahre alt. Ja, es sind noch Kinder. Alle vor dem Stimmbruch, kein Bartflaum, keine Brüste bei den Mädchen. Die weitaus meisten Kinder sind Deutsche. Vom Aussehen oder auch vom Namen mache ich lediglich drei ausländische Kinder unter ihnen aus. Zwei Türken und das Mädchen Jelena. Balkan, vermute ich. Ob aus Serbien, Kroatien oder Bosnien, frag ich sie nicht, so sehr es mich reizt. Es gäbe keine Gründe dafür außer meiner Neugier. Der Gier, eigene Vorurteile zu füttern.
Über Eck neben mir, am Ende einer Bankreihe, sitzt Fatih, ganz außen. Zufall oder nicht, der Platz an seiner Seite bleibt leer. Er ist der kräftigste der Knaben, sein Körper im Übergang zum Jüngling. Auch die Frisur. Das dunkle Haar von beiden Seiten zur Kampframme hochgebürstet über der Stirn, mit Pomade, links ein grellgelber Streifen hineingefärbt. Und pflegt bereits das Fläzige, Lustlose der Pubertät in seinem Gebaren, liegt quer über der Bank, die Backe auf der Faust zerknautscht. Ab und zu gehen die Brauen hoch, wenn er etwas ganz bescheuert findet. Er sagt kaum etwas, und wenn, dann ist ein Lächeln um seinen Mund, mit dem er sich von allem absetzt, auch von sich selbst, so kommt’s mir vor. Jedenfalls, dieses Lächeln gefällt mir. Versunken ist der Junge noch nicht im Schweigen, der Verstocktheit, die aus dem Gären in seinem Körper wächst.
Heute bin ich allein in der Klasse. Die Deutschlehrerin ist auf Schulfahrt unterwegs. Meine Sorge, daß die Schüler das ausnutzen, ist unbegründet. Es bleibt alles wie sonst.
„Ej, der hat ja seine Kopfhörer auf!“ ruft Marc und sieht zu Fatih rüber. Ich dreh den Kopf, schau ihn an, staunend. Fatih nimmt den Blick wahr, und schon ist der Kopfhörer unter der Bank verschwunden.
„Es interessiert dich nicht, was wir machen. Schade.“ Eine Feststellung von mir, kein Tadel. Fatih fläzt sich noch flacher auf den Tisch. Seine Art der Bestätigung.
Irgendwann merk ich, wie Fatih in eine Wurstsemmel beißt. Diesmal schau ich länger hin. Nein, das gefällt mir nicht. Gleich ist die Semmel weg.
Jetzt geht’s ans Schreiben. Die Kinder sollen, jeder für sich oder mit dem Nachbarn, die Fortsetzung unserer Geschichte aufschreiben. Auch Fatih schreibt, wie jedes Mal bisher, den Kopf auf die freie linke Hand gestützt. Über drei, vier Zeilen kam er bisher nicht heraus. Die meisten schreiben ein DIN A 4-Blatt voll, manche auch zwei. (Ihre Schrift vom Computer noch nicht zerstört.) Während des Schreibens gehe ich durch die Reihen, guck den Schülern über die Schulter, beantworte Fragen. („Wie schreibt man Cote d’Azur?“) Bei Fatih, der mir am nächsten sitzt, fang ich an.
„Na, dir fällt ja heute viel ein“, sag ich, denn Fatih hat schon fünf Zeilen geschafft mit seiner Füllfeder. „Willst du nachher vorlesen?“ Nur ein Kopfschütteln. Nein.

Zurück vom Rundgang an meinem Platz, schiebt Fatih mir ein volles Blatt hin, zum Lesen. Saubere Schrift, kaum eine Verschreibung. So gut wie jedes Substantiv klein geschrieben. Über das Wort „pannig“ stolpere ich. „Panik“ soll das heißen. Ich lobe ihn für seinen Text. Wieder sein Lächeln. Bei meinem zweiten Gang durch die Klasse begleitet er mich, wortlos, einfach so. Wir bleiben hinter Jelena stehen.
„Habt ihr kein Bügeleisen zuhause, Fatih?“ fragt sie ihn. Jetzt seh ich auch die Falten auf seinem verwaschen blauen Baumwollhemd. Keine Antwort von Fatih. Immer nur sein gleiches Lächeln.
„Das war Spaß, Fatih“, lacht Jelena, mehr zu mir als zu ihm. „Das war nur ein Spaß.“
Die Schüler sind fertig geworden. Finger in die Höh. Einige zappeln, vor Eifer, ihre Version unserer Geschichte vorlesen zu dürfen.
„Ich will lesen“, sagt Fatih von der Seite. Donnerwetter!
„Schön, Fatih, lies.“
Er liest, mühsam, stockend, Wort für Wort beinah, den Kopf tief auf dem Papier.
Die Sätze korrekt gebaut. Befremdliche Wendungen. Die Klasse war „seelenleer“. Die Lehrerin stand da „vor staunen wie ein baum“. Reizvolle Bilder – aus Ungeschick? Einfallsreich ist seine Geschichte nicht. Aber genau. Die Vorgänge, die er beschreibt, schlüssig gefolgert, ohne Sprünge. Erst sein lautes Lesen macht mir klar: Deutsch ist für Fatih eine fremde Sprache. Er hat seine Mühe damit. Meine Güte, wie muß dieser Junge sich anstrengen für etwas, das seinen Klassenkameraden in den Schoß gefallen ist.
Ich bin beeindruckt und lobe den Jungen ausführlich. An den Mitschülern geht das vorbei. Sie haben Fatih eben nur mit Ungeduld zugehört, denn originell ist seine Geschichte wirklich nicht. Sie schnippen und schnippen, daß sie jetzt endlich ihre Erfindung der Fortsetzung vorlesen dürfen, bei der so viel mehr und Aufregenderes passiert. Und ich überleg mir, ob ich Jelena nicht doch einfach mal frage.


© Michael Zeller - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007