Eine Begegnung mit der dunklen Seite

Jussi Adler Olsens Thriller „Erbarmen“ in einer Bearbeitung für das Westfälische Landestheater von Sabrina Ullrich

von Frank Becker

Foto © Volker Beushausen
Wieviel Tränen hat ein Mensch?
Wieviel Angst kann man ertragen?
 
Jussi Adler Olsens Thriller „Erbarmen“
Bearbeitung für das Westfälische Landestheater
von Sabrina Ullrich
 
 
Inszenierung: Lothar Maninger Buch: Sabrina Ullrich Ausstattung: Anna Kirschstein Dramaturgie: Christian Scholze - Fotos: Volker Beushausen
Besetzung: Guido Thurk (Vize-Kommissar Carl Mørck) - Bülent Özdil (Hafez el-Assad) - Julia Gutjahr (Merete Lynggaard) - Thomas Zimmer (Lasse Jensen / Jonas Hess) - Vesna Buljevic (Ulla Jensen) - Burghard Braun (Marcus Jacobsen / Heimleiter Rasmussen) - Sophie Schmidt (Lis / Sos Norup) - Thomas Tiberius Meikl (Pelle Hyttested / Lars Björn) - Felix Sommer (Tage Baggesen)
 
Eine Begegnung mit der dunklen Seite
 
Keine Lektüre für ungeduldige Leser mit schwachen Nerven, kein flotter Krimi mit smarten Detektiven, die alles locker im Griff haben, keine seichte Nachmittags-Lektüre für „nebenher“ ist die Vorlage zu diesem packenden Theaterstück: Jussi Adler Olsens Thriller „Erbarmen“, ein Roman, dessen Sog den Leser unaufhaltsam in die mehrschichtige Handlung hineinzieht, fesselt, mit dem Grauen in Gestalt menschlicher Erbarmungslosigkeit konfrontiert und nicht losläßt, bis man das Buch nach Seite 417 atemlos aus der Hand legt. Brillante Unterhaltung zum einen, durch die Wahl des Sujets aber auch die Begegnung mit der dunklen Seite. Wäre es ein Film, würde man sich vermutlich an die Sessellehnen klammern, bis die Fingerknöchel weiß werden. Nun wurde das Buch in der Bearbeitung von Sabrina Ullrich zum Bühnenstück. „Geht nicht!“ ist der spontane Gedanke zu diesem gewagten Unterfangen. Dann Neugier: ob es wohl doch geht? Schließlich nach dem Abend im Velberter Forum Niederberg ein „Chapeau“ für Lothar Maninger und sein Ensemble des Westfälischen Landestheaters, die es tatsächlich geschafft haben, in ihrer Uraufführung die Spannung auf die Bühne zu übertragen und ein Kompliment an Anna Kirschstein, die dazu die beeindruckend funktionale Bühne gebaut hat.

Beachtliche Bühnenfassung

Bülent Özdil - Foto © Volker Beushausen
 
Carl Mørck, Mordermittler der Kripo Kopenhagen, ist durch das traumatische Erlebnis einer Schießerei, das einen Kollegen das Leben kostete und einen anderen gelähmt ans Bett fesselt, ein unbequemer, schwer zu führender Kollege geworden. Seiner Verdienste wegen wollen und können ihn seine Vorgesetzten (sympathisch: Burghard Braun als Marcus Jacobsen) nicht entlassen oder maßregeln, also wird er „befördert“ - zum Leiter des neu ins Leben gerufenen Dezernats Q, das alte ungelöste Fälle von öffentlichem Interesse wieder aufnehmen soll. Mit Guido Thurk, auf den ersten Blick vom Typ her falsch besetzt, hat Maninger dennoch einen passenden wortkargen Mørck gefunden. Das „Dezernat“ im Keller des Polizeigebäudes allerdings besteht nur aus Mørck selbst und einem Bürohelfer, dem libanesischen Immigranten Hafez el-Assad. Der entwickelt sich schnell zum unverzichtbaren alter ego des eigenwilligen und sturen Vize-Kommissars Mørck. Bülent Özdil erweist sich als schlitzohrige hocheffektive Idealbesetzung und wird neben Julia Gutjahr (großartig und tief bewegend als Merete Lyngaard) die zweite tragende Säule der Inszenierung. Gemeinsam mit der Bürokraft Lis, die nicht im Geringsten der Figur der Romanvorlage entspricht (auch akustisch eine glatte Fehlbesetzung: Sophie Schmidt) öffnen sie die abgelegten Akten zum Fall der Folketing-Abgeordneten Merete Lyngaard die fünf Jahre zuvor spurlos von der Fähre Rødby/Puttgarden verschwunden war. Die Spuren führen in den Norden Sjællands, wo sich zwischen Kopenhagen und Tisvildeleje ein nervenzehrendes Drama abspielt - und die Zeit läuft unerbittlich ab.

Nichts für schwache Nerven
 
Der Theaterzuschauer hat dem Leser gegenüber sogar den Vorteil, zeitlich verdichtet alle Handlungsebenen bis in die Vergangenheit hinein nebeneinander mit dem Hier und Jetzt auf der nahezu leeren, dennoch alles erzählenden Bühne von Anna Kirschstein zu erleben. Merete Lyngaard ist keineswegs tot ist, sondern seit ihrem Verschwinden, das eine Entführung war, in der Gewalt von Leuten, die sie unter grausamsten und erniedrigendsten Umständen in einem völlig isolierten Raum gefangen halten. Das Motiv dafür ist Rache, doch wird Merete das erst nach fünf Jahren Angst, Tränen, Verzweiflung, Entwürdigung erfahren. Und damit scheint auch ihr Ende gekommen. Man erlebt sowohl ihren Kampf gegen die erbarmungslose seelische Vernichtung mit, wie parallel dazu die zähen Ermittlungen Mørcks und Assads, die gegen Widerstände einen Vorgang aufdecken, der die Kälte menschlicher Niedrigkeit bis ins Mark dringen läßt. Die ungeheure Spannung, die Jussi Adler-Olsen aufgebaut hat, wurde auf hohem Niveau und mit menschlichem Mit-Leiden kongenial auf die Bühne übertragen.
 

v.l.: Guido Thurk, Bülent Özdil - Foto © Volker Beushausen

Spannung auf hohem Niveau
 
Bis zur wörtlich letzten Seite kann Adler Olsen die Spannung halten. Es wäre ein Sakrileg, hier mehr dazu zu sagen. Mit den Figuren Mørcks und Assads hat Adler Olsen ein Gespann geschaffen, das noch für viele neue Fälle gut ist (einige weitere sind bereits in Buchform veröffentlicht). Bei aller Härte des Stoffes läßt Lothar Maninger auch Adler Olsens grimmigen Humor durchschimmern und zeichnet die Charaktere seiner Figuren und ihr persönliches Umfeld nachvollziehbar. Ein Thriller der Güteklasse A!

 
 Julia Gutjahr - Foto © Volker Beushausen

Auch für die Bühnenfassung die Musenblätter-Auszeichnung: den Musenkuß!