Der Preis der Moral

Ingrid Nolls neuer Roman – „Hab und Gier“

von Frank Becker

Der Preis der Moral
 
Ingrid Nolls neuer Roman – „Hab und Gier“
 
Es ist der unheimliche Sog des Geldes, den Ingrid Noll in ihrem neuen Roman „Hab und Gier“ mit dem von ihr bekannten bitterbösen Humor in den Mittelpunkt der Handlung stellt. Der todkranke, anscheinend nicht unvermögende Witwer Wolfram, einst Bibliothekar im idyllischen Weinheim, lädt seine ehemalige, jetzt frühpensionierte Bibliotheks-Kollegin Karla ein, um ihr Vorschläge für seine mögliche Unterstützung zu unterbreiten. Das solle natürlich nicht ohne Lohn bleiben, wofür er ihr drei lukrativ erscheinende Optionen anbietet. A.: sollte sie sich bereiterklären, nach seinem Tod um die Beerdigung und die Inschrift auf seinem Grabstein zu kümmern, würde sie ein Viertel seines Vermögens erben. B.: im Fall, daß sie ihn bis zu seinem Tod pflegt, wäre das Erbe die Hälfte seiner Hinterlassenschaft. C.: alles, einschließlich der schönen alten Villa, in der er lebt, soll ihr gehören, wenn sie Wolfram seinen eigenen Vorstellungen entsprechend umbringt. Natürlich weist Karla das dritte Ansinnen empört zurück – nicht aber ohne den unheilvollen Gedanken mit nach Hause zu nehmen…
 
Ingrid Noll läßt die Leser hautnah den Gedankengängen Karlas folgen, läßt spüren, wie sie beginnt an den Lippen zu nagen, wie zunächst noch verschämt Gier entsteht und Moralvorstellungen ins Wanken kommen. Und sie läßt den Teufel im Leser wach werden, der unwillkürlich sich selbst zu prüfen beginnt, wie weit er gehen würde. Wie hoch ist der Preis der Moral? Karla zieht unter dem Siegel der Verschwiegenheit eine jüngere Freundin und Kollegin zu Rate, die wiederum ihren Lover ins Boot nimmt und sogleich das Heft an sich reißt. Karla hat damit eine Lawine von Habgier, Mißtrauen, Fälschung, Lügen und Mord losgetreten. Ingrid Noll hat ihre Figuren so exakt gezeichnet, daß man sie vor sich sieht, erzählt die Geschichte mit vielen überraschenden wie skurrilen Wendungen bis zum kaum zu erwartenden Schluß so fesselnd, daß mir schlicht kein besserer Begriff dazu einfällt als „Page-Turner“.

Das Buch liest sich weg „wie Butterbrot“, ein Schmökervergnügen, bei dem man im Bus seine Haltestelle verpaßt und zu Hause die Nachttischlampe nicht eher ausknipst, bis entweder die Augen zuzufallen drohen oder man schließlich doch zufrieden die letzte Seite umgedreht hat.
 
Ingrid Noll – „Hab und Gier“, Roman
© 2014 Diogenes Verlag, 253 Seiten, Leinen mit Schutzumschlag – ISBN 978-3-257-06885-6
21,90 €
 
Weitere Informationen:  www.diogenes.ch