Fenster-Bilder

Der Blick durchs Fenster in Kunst und Literatur

von Frank Becker

 

         

 

Rolf Selbmann - Eine Kulturgeschichte des Fensters von der Antike bis zur Moderne
© 2009 Reimer Verlag
 
Fenster-Bilder seit Matisse und Duchamp
© 2012 Hatje Cantz

Fenster-Bilder
 
Im offnen Fenster lehn ich
Und träume in die Nacht hinauf;
(Rainer Maria Rilke, Vigilien)
 
Der Blick aus dem Fenster in die Welt wird von Literaten und Malern seit jeher in unendlichen Variationen dargestellt und beschrieben, Fotografen und Filmkünstler haben in der Folge das Magische des Blicks nach draußen für ihre Medien aufgegriffen. Dem so in den das Haus umgebenden Garten, dem bis zum Horizont und weiter in die Ferne schweifenden oder sich in der Nacht verlierenden Blick zu folgen, den fliehenden eigenen Gedanken hinterher, gehört zu diesem Faszinosum. Das Leben „draußen“ durch die trennende Scheibe zu betrachten, von dem uns, wenn wir uns in die umschlossene Sicherheit des Hauses begeben haben, das Fenster zugleich trennt und die Möglichkeit des geschützten Blicks eröffnet, ist für Künstler und Kunsthistoriker, aber auch für jeden von uns ein schier unerschöpfliches Thema, wie die beiden Bücher belegen, die ich Ihnen heute hier vorstelle.
Denken wir zunächst an die eigenen Seh-Erfahrungen. Haben Sie in ihrem Leben nicht manchen langen, versonnenen Blick aus dem Fenster ihres Heims, Ihrer Küche, Ihres Büros in die Welt hinter der Scheibe getan? Er verselbständigt sich, wird zum Instrument von Sehnsucht, Liebe und Melancholie, Fern- und Heimweh, je nachdem wo wir hinausschauen und was gerade unser Leben bestimmt. Auch ist es der Moment der Stille, in dem wir ganz bei uns sind, der den Augenblick so besonders und wertvoll macht.
 
Von der Antike bis zur Moderne
 
Der Germanist und Kunsthistoriker Rolf Selbmann hat sich in seinem vielseitigen Buch „Eine Kulturgeschichte des Fensters von der Antike bis zur

Johann Peter Hasenclever, Die Sentimentale (1847)
Moderne“ dem Thema mit eloquenten Bildinterpretationen von frühen keramischer Arbeiten über den Codex Manesse, die Malerei des niederländischen Barock ( u.a. Elinga, Vermeer) und der deutschen Romantik (Hasenclever, Friedrich, Runge) bis zum Biedermeier (Spitzweg, Schwind, Stange) zur europäischen (u.a. Macke, Picasso, Dufy)  und amerikanischen Moderne des 20. Jahrhunderts (Hopper, Estes) sowie Cartoons/Karikaturen (Daumier, Sowa, Birg, Papan) von der künstlerischen Seite genähert. Über Untersuchungen von frühesten anonymen Texten und Dokumenten und genau wie bei den Bildern über Barock und Romantik, Shakespeare und Rückert, Heine und Fontane bis Borchert, Kunert und Kunze geht er die Aspekte der literarischen Seite an, wobei er durchaus auch den Kontext von Literatur und Malerei aufzeigt. Natürlich dürfen da auch Goethes Werther mit dem berühmten Seufzer „Klopstock!“ am Fenster und Fontanes „Effi Briest“ nicht fehlen.
In griffige Kapitel eingeteilt, bietet das reich illustrierte, äußerst kurzweilige Buch, das den Leser nicht an eine Chronologie bindet, mannigfaltigen Zugang zur Fensterschau, auch mit dem Blick von außen auf das Fenster und den Schauenden.  
 
„Fensterblicke faszinieren. Doch erst bei genauerem Hinsehen erkennen wir Muster, die Denkformen widerspiegeln, Wahrnehmungen durchsichtig machen oder Räume neu ausleuchten. Die Geschichte des Fensterblicks von der Antike bis in die Gegenwart ist zugleich eine Kulturgeschichte unserer Wahrnehmung.
Was sehen wir, wenn wir durch ein Fenster blicken? Vielleicht auch uns selbst. Die Geschichte solcher Blicke entpuppt sich als Kunst- und Kulturgeschichte von besonderer Ausdruckskraft. Sie enthüllt noch mehr: eine Kulturgeschichte der Menschheit. Fenster sind allgegenwärtig. Nicht zufällig entstammt das erste Fenster göttlichem Auftrag, arbeiten wir täglich mit Computerprogrammen, bei denen ein Fenster nach dem anderen aufgeht. Rolf Selbmann öffnet das Fenster für die unterschiedlichsten Aus-, Ein- und Durchblicke, die stets durch zahlreiche farbige Abbildungen veranschaulicht werden.“ (Verlagstext)
 
Aus dem Inhalt:
- Licht, Raum Blick - Fenster-Typologie: Lichtwand, Fensterraum, Rahmen, das Schaufenster
- Archäologie des Fensters: Erotik und Neugier – Licht, Fläche, Farbe, Sinnbilder
- Fensterperspektiven: Madonna am Fenster, Raumtiefe/Bildfläche, Landschaft mit Fenster
- Fenster als Schwellenräume: Goethe am Fenster, „Gedichte sind gemalte Fensterscheiben“, poetische Fenster-Schwellen
- Frauen am Fenster:  „Am Fenster ich einsam stand“, Das Fenster zur Morgenstunde, „Sie stand am Fenster und lachte“, Sentimentale Fensterblicke
- Genaue Fensterblicke: Freie Stunden am Fenster, Hypochonder am Dachfenster – „Öffne das Fenster – ich ersticke“
- Zerstreutes Hinausschaun: Fenstermysterien, Vibrierende Fensterscheiben
- Offene Fenster: Künstler am Fenster, Gläserne Leere, „Der Augenblick des Fensters“
Was dem Buch allerdings schmerzhaft fehlt, ist ein Namensindex, der zu Künstlern und Autoren führen würde.
 
Rolf Selbmann - Eine Kulturgeschichte des Fensters von der Antike bis zur Moderne
© 2009 Reimer Verlag, 222 S. m. 103 Farb- u. 23 s/w-Abb., 17 x 24 cm, Gebunden mit Schutzumschlag  - ISBN 978-3-496-01409-6
39,00 € [D] | 50,70 SFR [CH]
 
Weitere Informationen:  www.reimer-verlag.de
 
 
Das Fenster in der zeitgenössischen Moderne
 
Auch an dem Ausstellungs-Katalog „Fenster-Bilder seit Matisse und Duchamp“ aus dem Jahr 2012 ist Rolf Selbmann neben vielen anderen

   Marcel Duchamp La bagarre d´ Austerlitz 1921  
   Foto: Katalog
Kapazitäten mit einem Auszug aus seinem o.a. Buch beteiligt. Die damalige Düsseldorfer Ausstellung hatte sich der Darstellung des Fensters in der zeitgenössischen Moderne gewidmet. Gezeigt und in hervorragenden Essays beschrieben werden Bilder, Objekte und Fotografien von Robert Delaunay, Henri Matisse, Josef Albers, Marcel Duchamp, René Magritte, Ellsworth Kelly, Eva Hesse, Christo, Robert Motherwell, Brice Marden, Gerhard Richter, Isa Gensken, Günther Förg, Toba Khedoori, Jeff Wall, Olafur Eliasson und Sabine Hornig.
 
 „Die Vorstellung, das Bild sei wie ein geöffnetes Fenster, 1435 von Leon Battista Alberti formuliert, prägte Generationen von Malern. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das auf sein Rahmengeviert reduzierte Fenster als Motiv und Symbol eingesetzt, um die Freiheit der Malerei von ihrer abbildenden Funktion zu erproben. In dem Maß, wie sich das Fenster leert, verweigert das Bild den Blick auf die Welt. Mit Fresh Widow, der Replik eines französischen Fensters, dessen Scheiben mit schwarzem Leder bedeckt sind, postuliert Marcel Duchamp 1920 den Abschied von der illusionistischen Malerei. Das Werk markiert zugleich einen Neubeginn. Die Publikation reflektiert die Entwicklung des Fensterbildes in der Kunst anhand von Essays sowie monografischen Texten zu den ausgestellten Künstlern.“ (Verlagstext)
 
Fresh Widow. Fensterbilder seit Matisse und Duchamp
Hrsg. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, Vorwort von Marion Ackermann, Texte von Elke Bippus, Ina Blom, Erich Franz, Rune Gade, Stefan Gronert, Christoph Grunenberg, Peter Kropmanns, Doris Krystof, Caroline Käding, Heinz Liesbrock, Isabelle Malz, Christian Müller, Maria Müller-Schareck, Hans Rudolf Reust, Lisa Schmidt, Rolf Selbmann, Melanie Vietmeier, John Yau, Gestaltung von Sascha Simon Brenner, Sascha Lobe, L2M3 Stuttgart
 
© 2012 Hatje Cantz, 288 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, Fadenheftung, 180 farbige Abb., 19,40 x 25,70 cm, Verzeichnis der gezeigten Werke, Kurzbiographien, Literaturhinweise -  ISBN 978-3-7757-3292-5
(Englische Ausgabe ISBN 978-3-7757-3293-2)
39,80 €
 
Weitere Informationen: www.hatjecantz.de